ZEHN JAHRE NACH LEHMAN – EINE ZWISCHENBILANZ

ZEHN JAHRE NACH LEHMAN – EINE ZWISCHENBILANZ

Last Updated on 2018-09-06

Wie es zur Finanzkrise 2008 kam und ob daraus die richtigen Schlüsse gezogen wurden, analysiert FURCHE-Mitherausgeber und Ex-Banker Dr. Wilfried Stadler

Am Montag, dem 15. September 2008, nach mehreren Wochen letztlich vergeblicher Rettungsversuche, stürzte die Pleite von Lehman Brothers, einer der damals größten Investmentbanken der Welt, das internationale Bankensystem in seine tiefste Krise seit den Dreißigerjahren. Die Zahlungsunfähigkeit des noch am Freitag davor als unsinkbares Schiff geltenden Finanz-Kolosses löste eine Kaskade von drastischen Folgewirkungen aus. Das ominöse Datum hat sich auch deshalb tief im kollektiven Gedächtnis eingenistet, weil sich die Finanzkrise gerade in Europa in der Folge zu einer handfesten politischen Krise ausgewachsen hat. Zehn Jahre danach sieht zwar alles wieder sicherer aus – aber eine neue Normalität liegt wohl immer noch in weiter Ferne.

Marktschwankungen und spekulative Ausschläge von Bewertungen nach oben und unten gehörten immer schon zum gewissermaßen normalen Geschehen auf den internationalen Finanzmärkten. In besonderen Situationen wurden daraus handfeste Krisen. Über lange Zeiträume hinweg waren davon vor allem politisch weniger gefestigte Länder wie Argentinien oder Russland betroffen. Was 2008 passierte, betraf jedoch erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg die über Jahrzehnte als sicher geltenden Staaten des Westens mit ihren hochkomplexen Großbanken.

Bis auf wenige, an einer Hand abzählbare Ausnahmen hatte niemand aus dem Kreis der an den Unis, in den Notenbanken und den Aufsichtsbehörden beschäftigten Ökonomen eine ernsthafte Krise dieses Ausmaßes kommen sehen. Im Gegenteil: das Platzen der „New-Economy“-Kursblase zur Jahrtausendwende war von der Finanzbranche dank der Niedrigzinspolitik der US-Notenbank Fed so gut weggesteckt worden, dass man sich in einer weitgehend krisenbefreiten Phase ökonomischer Stabilität wähnte. Der damalige Fed-Präsident Ben Bernanke sprach 2006 gar von einer „great moderation“. Dieser Besänftigungs-Modus wurde noch dadurch verstärkt, dass die gerade erst nachgeschärften Regelwerke für das Bankwesen („Basel II“) vermeintlich für eine höhere Sicherheit im Bankwesen sorgten. Mit den modernsten Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung wurde die Einhaltung von Risikogrenzen strenger überwacht als je zuvor.

Im Hochgefühl der Illusion permanenter Kontrolle des eigenen Tuns beackerten die erfolgsverwöhnten Finanzmanager extensiv das weite Feld der so genannten „Finanzinnovationen“. Aus den Hexenküchen der Investmentbanken kam eine immer unübersichtlichere Vielzahl von Derivaten und Verbriefungen, deren zunächst unschuldiger Zweck es war, Risiken über alle Laufzeiten weltweit handelbar zu machen. Auch wuchs die Zahl der Schattenbanken unkontrolliert an, ohne dass daran jemand Anstoß nahm.

Falsche Weichenstellungen in Basel

All das hätte jedoch für den Ausbruch einer Krise noch nicht ausgereicht. Der Cocktail wurde erst dadurch richtig giftig, dass man den Banken die Möglichkeit einräumte, für vermeintlich gute Risiken nur Bruchteile des im normalen Bankgeschäft notwendigen Eigenkapitals ausweisen zu müssen. Mit dieser bis heute praktizierten „Risikogewichtung“ wurden die Urteile von Rating-Agenturen, die ja über die Bonität von Schuldnern und einzelnen Schuldtiteln zu befinden haben, zum bestimmenden Maßstab der jeweils erforderlichen Risikopuffer von Banken.

Als nun die Rating-Agenturen die Verbriefungen von Wohnbaukrediten regelmäßig mit Traum-Bonitätsnoten versahen, gab es kein Halten mehr. Die Großbanken nicht nur der USA, sondern auch Europas deckten sich mit diesen vermeintlich sicheren Wertpapieren massenhaft ein, ohne dafür namhafte Eigenmittel vorhalten zu müssen. Dies führte zu einer drastischen Erhöhung der Bilanzsummen praktisch aller Großbanken ohne gleichzeitiges Wachstums des Eigenkapitals. Die damit verbundene, entsprechend überschießende Geldschöpfung stand in keinem erkennbaren Zusammenhang mehr mit realwirtschaftlichem Wachstum. Noch nie zuvor hatte sich das Weltbankensystem auf einer so dünnen Eisdecke bewegt.

Der Fremdmittelhebel, mit dem man die Bilanzen hochwuchtete, wuchs in zuvor nie gekannte Dimensionen und lag bei einigen der angesehensten Adressen beim dreißig- bis fünfzigfachen des Eigenkapitals. Fatalerweise traf dies in besonderer Weise für die europäischen Großbanken zu. Diese waren gerade erst in die Welt der marktorientierten Bilanzierung (IFRS) eingetreten und berauschten sich im Aufschwung dieser Jahre an nicht-realisierten Bewertungsgewinnen. Diese unterstützten in prozyklischer Dynamik die Bilanzexpansion, sollten sich jedoch schon bald als Scheingewinne herausstellen.

Überdies waren die Bonus-Systeme der Finanzjongleure vor allem am „Return on Equity“ (ROE) ausgerichtet, jener Kennzahl, die den Ertrag der Bank im Verhältnis zum eingesetzten Eigenkapital misst. Von daher unterlagen sie dem permanenten Anreiz, bei voller Einhaltung aller vorgeschriebenen Spielregeln mit immer weniger Eigenkapital immer höhere Bilanzsummen zu managen.

Der Weg in die Krise

Als dann ab 2007, nachdem die US-Notenbank Fed die Zinsen drastisch angehoben hatte, viele der ausgereichten Wohnbau-Kredite wegen der höheren Zinskosten nicht mehr leistbar waren und die Immobilienpreise wieder zu sinken begannen, führte das zu ersten, massiven Bewertungsverlusten in den mit viel zu wenig Eigenkapital ausgestatteten Investmentbanken. Einige von ihnen konnten zunächst noch aufgefangen werden – bei Lehman Brothers jedoch ging sich das nicht mehr aus.

Unmittelbar nach Bekanntwerden der Zahlungsunfähigkeit einer der weltgrößten Banken sank das Vertrauen zwischen den globalen Finanzpartnern aus Angst vor der nächsten Pleite gegen Null. Das weitgehende Einfrieren der Zwischenbanken-Ausleihungen führte direkt in eine handfeste Liquiditäts-Krise des globalen Finanzsystems.

Die verunsicherten Bankkunden begannen sich um ihr Erspartes Sorgen zu machen. Ein Sturm der Sparer auf die Bankschalter stand unmittelbar bevor. Mit dem Bemühen, das hart verdiente Geld zusammen zu halten, nahm auch die Konsumfreude abrupt ab, das Wachstum brach ein, die Arbeitslosigkeit stieg innerhalb kürzester Zeit dramatisch an. Es sollte bis zum zweiten Quartal des darauf folgenden Jahres dauern, bis sich die konjunkturelle Lage wieder zu beruhigen begann.

Erfolgreiche Schadensbegrenzung

Dass der Schaden letztlich doch begrenzt werden konnte, war nur dem entschlossenen supranationalen Zusammenwirken von Regierungen und Notenbanken zu verdanken. Die Zentralbanken wurden ihrer wichtigsten Aufgabe gerecht, in der Not für ausreichenden Geldfluss zu sorgen, und die Regierungen stampften in erstaunlicher Geschwindigkeit Sondergesetze aus dem Boden, die allen Beteiligten die Sicherheit gaben, dass für die Funktionsfähigkeit des Finanzsystems gesorgt würde. Das Vertrauen der Sparer konnte durch eine Totalgarantie aller privaten Einlagen wieder hergestellt werden.

Auch die österreichische Politik reagierte damals unter der Federführung von Bundeskanzler Gusenbauer und Finanzminister Molterer durchaus professionell. Innerhalb weniger Wochen nach der Lehman-Katastrophe brachte man in größter Bedrängnis im Zusammenwirken mit der Notenbank noch innerhalb des Monats Oktober ein Finanzmarktstabilitätsgesetz durchs Parlament, das bis heute auch im internationalen Vergleich bestehen kann. Einerseits ermöglichten staatliche Anleihegarantien den Banken die Aufrechterhaltung ihrer Refinanzierungsquellen, andererseits diente ein Rahmen für Partizipationskapital der Stärkung der Bankbilanzen. Die gleichzeitig geschaffene Möglichkeit einer Vollverstaatlichung von gefährdeten Banken fand unmittelbar nach Inkrafttreten des Gesetzes bei der vom Verbriefungs-Desaster besonders betroffenen Kommunalkredit ihre erste und bisher einzige Anwendung.

Die Gesamtkosten der konzertierten Stabilisierungsaktion werden erst endgültig feststehen, wenn die insgesamt drei zu Sanierungszwecken geschaffenen Abbaubanken ihre Tätigkeit beendet haben. Aus heutiger Sicht werden sie insgesamt bei acht bis zehn Milliarden Euro zu liegen kommen. Damit bewegt sich die österreichische Bankenhilfe in etwa auf dem Niveau vergleichbarer Länder wie Deutschland. Dass die Kosten einer Untätigkeit in der damaligen Situation um ein Vielfaches höher ausgefallen wären, wird heute von niemandem mehr bezweifelt.

Reformen mit Hindernissen

Im Mittelpunkt der Reformanstrengungen in Sachen Bankenregulierung nach der Krise stand aus gutem Grund von Beginn an das Bemühen, Staatshilfen künftig entbehrlich zu machen und anfallende Sanierungskosten dem Bankensystem selbst anzulasten. Kein Institut sollte in Zukunft mehr „too big too fail“ sein und so im Krisenfall erst recht wieder den Steuerzahlern zur Last fallen. Mit diesem Ziel vor Augen wurde das bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel erarbeitete Regelwerk grundlegend überarbeitet. Unzählige Retuschen und Feinarbeiten führten dazu, dass das nunmehr „Basel III“ genannte Kompendium in seiner letztgültigen, viele tausend Seiten umfassenden Version erst im Herbst vergangenen Jahres finalisiert werden konnte. Wohl kam es zu einer deutlichen Verschärfung der Vorschriften hinsichtlich Qualität und Quantität der erforderlichen Eigenmittel von Banken sowie weitreichenden Pflichten zur Vorhaltung von Liquiditäts-Puffern. Zugleich wuchsen sich jedoch die neuen Spielregeln zu einem Bürokratiemonster aus, das selbst die Aufsichtsbehörden zu überfordern droht. Schon ist von einem „Turmbau zu Basel“ die Rede.

Denn gerade jene kleinen und mittleren Geldinstitute, die nie krisenursächlich waren und stets über eine ausreichende Kapitalausstattung verfügten, werden mit ihren Kunden vom geschäftshemmenden Wust der Vorschriften mit unnötigen Kosten belastet. Die für das Funktionieren einer Volkswirtschaft so wichtigen Kreditgeschäfte mit der „Realwirtschaft“ – also den vor allem mittelständischen Firmen- und Privatkunden – werden damit unnötig erschwert. Ein gangbarer Ausweg, um den vielen gut kapitalisierten Mittelstandsbanken eine Bresche durch den Regulierungsdschungel zu schlagen, läge darin, ihnen bei Überschreitung eines soliden Mindest-Kapitalsockels sonstigen bürokratischen Aufwand zu ersparen. Sie hätten dann gegenüber ihren schwächer kapitalisierten Mitbewerbern einen durchaus verdienten Konkurrenzvorteil.

Die kaum widerlegbare Erkenntnis, dass das wirksamste Rezept gegen künftige „Erdbeben“ im Finanzsystem in einem noch viel deutlicher gestärkten Fundament höherer Eigenkapitalquoten läge, wird von den globalen Großbanken bis heute mit all ihrer Einflussmacht bekämpft. Und so bleibt ihnen bis heute die Möglichkeit erhalten, über das Instrument der erstaunlicherweise nach wie vor zugelassenen „Risikogewichtung“ gemäß Rating-Einstufung mit allzu knappem Eigenkapital allzu große Bilanzen zu steuern.

Eine Zwischenbilanz der hier nur ansatzweise wiedergegebenen Reformanstrengungen nach der Krise fällt gemischt aus. Vieles ist gelungen, viel ist offen geblieben. Je nach Sichtweise ist das Glas demnach halb voll oder halb leer. So fehlt bis heute ein konsequentes Trennbankensystem, das die Grundfunktionen der Geldinstitute von ihren spekulativen Tätigkeiten im Eigenhandel trennt. Und die Einführung einer längst überfälligen Finanztransaktionssteuer wurde bis an den Punkt des Scheiterns hinausgezögert.

Hingegen hat sich die Schaffung der gemeinsamen europäischen Bankenaufsicht im Rahmen der Europäischen Bankenunion als ebenso sinnvoll erwiesen wie die Einrichtung von Reservefonds, mit denen die Banken solidarisch für Kunden-Einlagen Privater haften. Der neu geschaffene, komplexe Mechanismus, mit dem in Schwierigkeiten geratene Großbanken unter Einbeziehung ihrer Gläubiger saniert werden sollen, hat seine echte Bewährungsprobe hingegen noch nicht erlebt.

Es bleibt noch viel zu tun

Die enge gegenseitige Verflechtung der europäischen Großbanken mit ihren Wohnsitzstaaten und dem Geschehen in anderen Euro-Ländern führt auch heute noch – trotz Einführung permanenter Schutzschirme und trotz funktionierender Bankenaufsicht – zu einer besonderen gegenseitigen Ansteckungsgefahr in Krisenzeiten. Weitere vertiefende Arbeiten in Richtung verbesserter Finanzmarktstabilität sind deshalb für Europa noch vordringlicher als für die USA. Wenn wir vermeiden wollen, dass von einer nächsten Finanzkrise wieder die gesamte Eurozone betroffen wird, muss uns deshalb daran gelegen sein, die noch offenen Reformanliegen zügig anzugehen.

Die verunsichernden Zeichen an der Wand – von der Türkeikrise bis zu den heftigen handelspolitischen Auseinandersetzungen – sind deutlich genug. Dazu kommt, dass völlig offen bleiben muss, ob auch heute, unter dem Vorzeichen von „America first“ und zunehmendem Nationalismus, eine mit dem Herbst 2008 vergleichbar wirksame, international akkordierte Katastrophenhilfe überhaupt zustande käme. Der Zehnjahrestag der Lehman-Pleite ist jedenfalls ein guter Anlass, über das Schließen der offen gebliebenen Flanken unseres Finanzsystems wieder intensiver nachzudenken als zuletzt.

Dieser für die Wochenzeitung DIE FURCHE verfasste Text wurde INARA von deren Mit-Herausgeber Wilfried Stadler zur Verfügung gestellt.

Wilfried Stadler ist Honorarprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien und Vorsitzender des Industriewissenschaftlichen Institutes. Bis Mitte 2009 war der in mehreren Aufsichtsräten österreichischer Unternehmen mitwirkende Ökonom und Publizist Vorstandsvorsitzender der Investkredit Bank AG. www.wilfried-stadler.com

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