Blog New Yorker Geschichten – USA: Bücherverbote – “Nichts hier ist normal.”

Blog New Yorker Geschichten – USA: Bücherverbote – “Nichts hier ist normal.”

Last Updated on 2023-08-21
standard.at / Blog Stella Schuhmacher, 13.01.2023  

Pen America feierte den 100. Geburtstag. Dabei wurde klar: das Recht auf freie Meinungsäußerung ist zurzeit stark umkämpft. Im Gastblog berichtet die New Yorkerin Stella Schuhmacher über die in den Vereinigten Staaten stattfindende Debatte zu Bücherverboten.

“Wenn Rede immer harmlos wäre, würde niemand sie einschränken oder schützen müssen.” Dieses Zitat von Suzanne Nossel, CEO von Pen America, erleuchtete die Fassade des Rockefeller Centers in New York anlässlich der 100-Jahres-Feier der Organisation im September. Pen America wurde 1922 gegründet, um Menschen auf der ganzen Welt dabei zu unterstützen, Literatur zu schaffen, Meinungen ungehindert auszudrücken und freien Zugang zu dem Schaffen anderer zu haben. Die Zeiten für Redefreiheit sind allerdings momentan schwierig.

“Wir stehen an einem gefährlichen Abgrund”, sagte Nossel in einem Interview mit der New York Times. “Junge Menschen haben sich von der Idee der freien Meinungsäußerung entfremdet und sehen sie als Verschleierung von Hass und Intoleranz. Gleichzeitig gibt es diejenigen, die sich selbst als Unterstützer der Redefreiheit bezeichnen. Bei genauerem Hinsehen realisiert man, dass sie Bücher verbieten, den Lehrplan knebeln und die freie Meinungsäußerung in unseren Schulen und Universitäten untergraben.” Auch sei der Angriff auf Salman Rushdie im Sommer 2022 “eine erschütternde Erinnerung daran, warum wir tun, was wir tun, und wie allgegenwärtig die Bedrohungen sind”. Salman Rushdie, Autor des Romans “Die Satanischen Verse”, wurde bei einem Literaturfestival im Westen des Bundesstaates New York von einem Attentäter mit zehn Messerstichen verletzt.

Bücherverbote nehmen zu

Die Zahl der verbotenen Bücher nimmt in den Vereinigten Staaten zurzeit rasant zu. “Mehr Bücher verboten. In mehr Bezirken. In mehr Bundesstaaten. Mehr Schüler, die uneingeschränkten Zugang zu Literatur verlieren.” So resümiert Pen America im vor kurzen erschienenen Bericht “Banned in the US: The Growing Movement to Censor Books in Schools” die Entwicklung des letzten Jahres. Im Zeitraum Juni 2021 bis Juli 2022 wurden laut Pen 2.532 Fälle von Buchverboten von 1.261 Autoren bekannt. Fast die Hälfte der verbotenen Titel waren Jugendbücher, aber auch zahlreiche Bilderbücher zählten dazu. Mehr als 5.000 Schulen und fast vier Millionen Schüler sind davon betroffen. Diese Zahlen umfassen lediglich die Verbote, die direkt an PEN gemeldet wurden oder von Medienberichten erfasst wurden. Die Dunkelziffer dürfte höher sein.

Dabei wurden diese Verbote fast immer ohne einen transparenten Prozess erlassen. Aktivitäten auf Schulebene wuchsen zu einer sozialen und politischen Bewegung auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen. Teils werden Verbote von Politikern und Politikerinnen vorangetrieben. Politischer Druck führte zu zahlreichen Bücherverboten, unter anderem in Texas, South Carolina, Wisconsin oder Georgia. Andererseits entstehen Facebook-Gruppen oder nationale Gruppen wie beispielsweise “Moms for Liberty” mit mehr als 200 Untergruppierungen, die sich für Bücherverbote einsetzen. Vertreter dieser Gruppen verteilen Listen zu verbietender Bücher, dringen in Schulausschusssitzungen ein, fordern neue Bewertungssystemen für Bibliotheken oder reichen Strafanzeigen gegen Schulbeamte, Lehrende und Bibliothekare sowie Bibliothekarinnen ein.

Auch öffentliche Bibliotheken werden ins Visier genommen, Bibliothekare und Bibliothekarinnen eingeschüchtert oder sogar ganze Bibliotheken unter Druck geschlossen. Jonathan Freedman, Autor des Pen-Berichts über die Bücherverbote, sagt: “Nichts hier ist normal. Wir erleben gerade einen Ausbruch von Bürgerwut und Bemühungen, Schulen und Bücher, Schulbibliothekare und Lehrer als etwas Gefährliches für Schüler darzustellen.”

Die überwiegende Mehrheit der Bücher, die so verboten werden, enthalten Protagonisten und Protagonistinnen, die LGBTQ+ und nicht-weiß sind, beschäftigen sich mit Rassismus in der amerikanischen Geschichte, LGBTQ + -Identitäten oder Sexualerziehung.

Auswirkungen der Bücherverbote

Die Auswirkungen solcher Verbote sind vielschichtig. Das Recht von Schülern auf Zugang zu einer Vielzahl von Geschichten und Perspektiven wird dadurch eingeschränkt. Marginalisierte Gruppen müssen zusehen, wie aus ihren Bibliotheksregalen die Bücher verschwinden, mit denen sie sich identifizieren und die sie direkt ansprechen. Pädagogen und Pädagoginnen sowie Bibliothekare und Bibliothekarinnen arbeiten in einem zunehmend strafenden und überwachungsorientierten Umfeld. Eltern verlieren die Möglichkeit, ihren Kindern ein schulisches Umfeld zu bieten, das Neugier, Entdeckungsfreude und Lesefreiheit unterstützt. Autorinnen und Autoren, deren Bücher auf diesen Verbotslisten landen, werden eingeschüchtert und fühlen sich bedroht.

Sogenannte “Banned Books Weeks” machen auf den Trend der Bücherverbote mit Kampagnen und Veranstaltungen aufmerksam. In New York widmen sich ganze Auslagen von Buchgeschäften dem Thema. Auch Politiker und Politikerinnen befassen sich damit. Im Repräsentantenhaus wurde im September eine Resolution verabschiedet, die auf die Gefahren von Bücherverboten für freie Meinungsäußerung in Schulen hinweist.

Redefreiheit, Desinformation und Soziale Medien

Das hundertjährige Jubiläum fällt auf einen komplizierten Zeitpunkt für Pen America und das zunehmend umkämpfte Prinzip der freien Meinungsäußerung, das die Organisation verteidigt. Pen hat sich über den traditionellen Fokus auf Schriftsteller und Schriftstellerinnen hinausbewegt und ist heute gegen eine Vielzahl neuer Bedrohungen für den offenen Diskurs aktiv, darunter Online-Belästigung, Desinformation und digitale Überwachung. In einem Gespräch erklärt mir Pen CEO Suzanne Nossel, Autorin des Buches “Dare to Speak”, warum es wichtig ist, die Macht von Regierungen zu regulieren, Rede- und Meinungsfreiheit einzuschränken. Sie erläutert auch, welche Pflichten Social-Media-Plattformen in diesem Kontext haben.

“Ich habe große Vorbehalte dagegen, dass Regierungen Redefreiheit einschränken sollen oder dass wir sie dazu ermächtigen, Rede auf der Grundlage eines Standpunkts zu verbieten und zu bestrafen, selbst wenn dieser Standpunkt Rassismus, Intoleranz oder Antisemitismus ist. Ich denke, wenn wir Regierungen diese Macht geben, wird sie auf eigennützige Weise genutzt werden,” sagt Nossel. Zum Beispiel, um die Regierung zu schützen, abweichende Meinungen herauszufiltern oder Kritik zu unterdrücken. “Trump war ein klares Beispiel dafür. Er bedrohte und rächte sich an Journalisten und Medienorganisationen, die auf kritische Weise über ihn berichteten. Er verunglimpfte seine Kritiker. Wenn er nicht durch den ersten Verfassungszusatz eingeschränkt worden wäre, hätte er diese Leute bestraft und möglicherweise ins Gefängnis geworfen,” sagt Nossel.

Twitter und Meta

Für den Umgang mit Hassrede in den sozialen Medien ist die Situation allerdings anders. “Sprache verbreitet sich in sozialen Medien sehr unterschiedlich, wird algorithmisch gesteuert und verstärkt. Social-Media-Plattformen unterliegen nicht den gleichen Einschränkungen bei der Inhaltsregulierung wie Regierungen, und ich glaube nicht, dass sie es sein sollten,” meint Nossel. Nach der Übernahme von Twitter durch Elon Musk werde man nun sehen, was passiert, wenn alle Regeln abgeschafft werden. “Im Moment erleben wir diesen absolut chaotischen Moment bei Twitter. Die Plattform könnte kurz vor dem Einsturz stehen. Denn es stellt sich heraus, dass es nicht funktioniert, alle Regeln abzuschaffen. Wenn alle Richtlinien weg sind und die Plattform mit Desinformationen überflutet wird, wird sie nutzlos.”

Wo liegen die Grenzen?

Nossel ist Mitglied im Meta Oversight Board, einer unabhängigen Expertengruppe, die entscheidet, ob Inhalte auf Facebook und Instagram bleiben sollen, wichtige Entscheidungen von Meta überprüft und dabei hilft, freie Meinungsäußerung und Sicherheit in Einklang zu bringen. “Wir sind sehr unterschiedlich und sind verständlicherweise in einigen Dingen anderer Meinung. Es bleibt unbewiesen, ob das, was an Social-Media-Plattformen für einen offenen und breiten Diskurs wertvoll ist, von dem zu trennen ist, was schädlich ist,” sagt Nossel über die Arbeit des Oversight Boards.

Redefreiheit bedeutet nicht, dass es keine Regeln für den Online Bereich geben sollte. Aber wer entscheidet? Und wie? “Ich glaube nicht, dass wir Regierungen ermächtigen wollen, streng zu regulieren, was online gesagt werden darf und was nicht. Ich glaube auch nicht, dass Silicon Valley-Milliardäre uneingeschränkte Kontrolle über Online-Debatten haben sollten, da sie ohne Rechenschaftspflicht oder Input operieren. Dies geschieht jetzt auf Twitter. Das Meta Oversight Board ist nicht perfekt, aber es stellt ein wichtiges Experiment dar”, sagt Nossel. Regierungen können Plattformen auffordern, transparenter zu werden und Forschenden Zugang zu gewähren, um die Auswirkungen auf den öffentlichen Diskurs in einer Demokratie besser zu verstehen, so Nossel. (Stella Schuhmacher, 13.1.2023)

Quelle: USA: Bücherverbote – “Nichts hier ist normal.” – New Yorker Geschichten – derStandard.at › Diskurs