Interview: „Die Schulen für das Leben öffnen“

Interview: „Die Schulen für das Leben öffnen“

Last Updated on 2018-08-02

Bildungsexpertin Dr. Susanne Schmid plädiert für eine Neuausrichtung der Lehreraus- und -weiterbildung, Veränderungen in den Lehrplänen und den Einsatz von Praktikern in den Schulen.

INARA: Der österreichischen IT-Wirtschaft fehlen aktuell 1.000 Fachkräfte, Tendenz steigend. Auf der anderen Seite finden immer mehr Akademiker keinen Job. Was läuft da falsch?
Dr. Susanne Schmid: Die fortschreitende Digitalisierung bringt es mit sich, dass auch die Qualifikationsanforderungen im Beruf immer IT-lastiger werden. Diesem Trend wird jedoch im heimischen Schul- und Studienwesen zu wenig Rechnung getragen. Man würde glauben, je früher Kinder über die Electronic Devices mit der IT-Technik in Berührung kommen, desto mehr von ihnen werden sich in diese Richtung entwickeln. Aber zwischen dem spielerischen Umgang mit Handy und Computer und einem Informatikstudium liegen Welten.

Fakt ist, dass es zu wenige Studienabgänger der sogenannten MINT-Fächer (Mathematik/Informatik/Naturwissenschaft/Technik) gibt, während andere Fakultäten „Überschüsse“ produzieren. Die Ansätze zur Förderung in MINT-Fächern müssen bereits im Kindergartenalter liegen und besonders für Mädchen braucht es mehr Selbstbewusstsein, damit auch sie in diesen Fächern punkten können. Der Ausbau einer qualifizierten Berufs-und Bildungsberatung ist notwendig und Anreize müssen im Unterricht geschaffen werden.

INARA: Kann man dieser Entwicklung gegensteuern? Und wenn ja wie?
Schmid: Aus meiner Sicht ist das machbar und es gibt in diesem Bereich auch schon viele Schulprojekte. Es bräuchte junge begeisternde Lehrer oder Informatiker, die für kurze Zeit als Lehrer einspringen und motivieren können. Positive Projekte wie „Teach for Austria“, „Go for IT“ aber auch Roboticwettkämpfe zeigen, wie man Begeisterung fördern kann. Für eine flächendeckende Umsetzung fehlen aber sowohl fachkundige und motivierende Lehrer als auch die erforderliche IT-Infrastruktur in den Schulen.

Daraus österreichweite Konzepte zu entwickeln und Budgets freizugeben, wäre sicher wichtig und dringend. Voraussetzung wäre auch eine sach- und keine parteipolitische Diskussion darüber.

INARA: Bleiben wir bei den Schülern: Ohne die Ergebnisse der letzten PISA-Studie 2018 überzubewerten, Österreich ist im OECD-Ranking zurückgefallen. Ist das für Sie alarmierend?
Schmid: Ich glaube nicht, dass unsere Schüler wirklich dümmer geworden sind, im Gegenteil. Bei all diesen Testungen ist der Trainingseffekt ein sehr großer d.h. wie sehr ist man dieses Testformat gewohnt. Es geht dabei oft nicht wirklich um faktisches Wissen oder Kompetenzen. In allen Unterrichtsbereichen wird der Lehrstoff immer größer, die Lehrer unterrichten zunehmend Spezialwissen und das geht zu Lasten der fächerübergreifenden Lehrinhalte und des Basiswissens.

Auf der anderen Seite setzt das Schulwesen zunehmend auf die Eigenverantwortung der Schüler. Statt mehrfachem Wiederholen und Trainieren wird heute der selbständige Wissenserwerb favorisiert. Der Lehrer wird zum Prüfer und Coach. Diese Unterrichtsform ist aber nicht für alle Schüler geeignet, denn sie setzt ein hohes Maß an Strukturierung, Zeitmanagement und persönlicher Reife voraus. Das führt dazu, dass weniger begabte Kinder dann nicht sinnerfassend lesen können, während begabte Kinder unterfordert sind.

Das Gleiche passiert beim Rechnen. Kopfrechnen, Einmaleins – das wurde früher täglich geübt. Heute geht es nicht mehr um Rechnen, sondern mehr um kompetenzorientierte Mathematik, aber ein Handwerker muss auch das simple Rechnen ohne Taschenrechner beherrschen. Schüler verlieren heute dadurch leider das Schätzen von Größenordnungen.

INARA: Ihre Empfehlung?
Schmid: Es gäbe viel zu tun. Beginnend mit der Lehreraus- und -weiterbildung, die das geänderte Umfeld, in dem sich unsere Kinder heute bewegen, stärker berücksichtigen und einbinden sollte. Klassisches Basiswissen aber auch aktuelle Entwicklungen müssen zu einem lebendigen Unterricht verschmelzen.

Es gibt große Unterschiede zwischen den AHS (allgemeinbildende höhere Schulen) und den BHS (dazu gehören HTL, HAK, Tourismusschulen usw.). Letztere habe viele Lehrer, die parallel dazu auch in der Wirtschaft tätig sind oder waren. Sie können den Lehrstoff ganz anders – praxisnäher – vermitteln. Es gibt mittlerweile auch zahlreiche Projekte, wo Praktiker an die Schulen geholt werden. Wenn ein Informatiker Beispiele aus seiner Berufspraxis berichtet, dann kommt es zu einem lebendigen interaktiven Austausch mit den Schülern. Diese spezielle Form von Co-Education zu stärken, wäre aus meiner Sicht nicht schwierig zu organisieren. Es gibt so viele Personen, die mit 60 Jahren unfreiwillig in Pension geschickt werden, auch die Generation 50 plus wäre dafür geeignet. Aber auch junge Menschen, die eine Zeit lang im Unterrichtswesen Erfahrungen sammeln wollen, aber doch nicht ewig Lehrer sein wollen.

INARA: Was wäre noch sinnvoll?

Schmid: Schulen könnten Berufsinformationstage abhalten, im Rahmen derer die Eltern der Schüler aus ihrer Berufspraxis erzählen. Das könnte vor allem eine authentische Form von Bildungs-und Berufsberatung sein. Dabei erklärt beispielsweise ein Lateinlehrer Schülern etwas über den Beruf des Arztes. Außerdem würde es zu einem besseren Verständnis der Schüler für die Tätigkeit ihrer Eltern beitragen.

INARA: Wie stehen Sie zum Leistungsgedanken?

Schmid: Eine Wirtschaft ohne Leistungsträger ist nicht funktionsfähig. Das hat mit Parteiideologie nichts zu tun. Die Begriffe Leistung, Leistungswilligkeit und Leistungsfähigkeit müssen endlich wieder salonfähig werden.

Chancengleichheit befürworte ich, aber sie darf nicht zur Suche nach dem „kleinsten gemeinsamen Nenner“ werden und allen die gleichen Bildungsabschlüsse bescheren.

Vieles ist erlernbar, aber es sind letzten Endes die Talente und Begabungen, die Entwicklung und Fortschritt ermöglichen. Wir können nicht aus jedem Schüler einen Einstein machen. Aber jeder Schüler sollte ein definiertes Mindestniveau erreichen. Jene, in denen mehr steckt, sollen die Möglichkeit erhalten, ihre Stärken weiter zu entwickeln. Sehen wir es so: Begabte sind „hungrig“ und brauchen das richtige Futter, um ihren Hunger zu stillen. Begabungen zu entdecken und zu fördern, sollte das Primärziel von Schule sein. Bei uns liegt aber oft der Fokus im Hinweisen auf die Fehler. Letztlich bestimmend für den richtigen Lebensweg können nur die Stärken eines jungen Menschen sein.

Daher bin ich auch eine Gegnerin der undifferenzierten Zentralmatura. AHS-Absolventen hätten bessere Berufschancen, wenn sie sich in der Oberstufe auf einzelne Fächer spezialisieren könnten, die dann im Rahmen der Matura stärker gewichtet wären. Alle BHS auf eine Matura zu trimmen, ist nicht sinnhaft, es wird zu viel „Teaching for the test“ praktiziert, gleichzeitig werden zu wenig ausbildungsspezifische Inhalte vermittelt. Der Begriff „allgemeine Hochschulreife“ ist angesichts von immer mehr Aufnahmetests im Hochschulbereich (in-und ausländischer Hochschulen) sowieso schon obsolet.

INARA: Die To-do Liste für das österreichische Schulwesen ist also groß. Wo sehen Sie die Top-Priorität?

Schmid: Wir müssen es schaffen, „mehr Leben in die Schulen zu bringen“ und die „Schulen für das Leben öffnen“. Jeder Schüler sollte am Ende seiner Schulzeit so viel von Wirtschaft und Recht verstehen, dass er seinen Staatsbürgerpflichten nachkommen und sein Leben alleine organisieren kann. Jeder Schüler sollte Selbstbewusstsein und Sozialkompetenz vermittelt bekommen, er sollte kommunikations- und teamfähig sein. Und last but not least: Schüler sollten die „Wirtschaft zum Angreifen“ vermittelt bekommen. Dazu braucht es nicht viel, vor allem keine grundlegende Änderung des gesamten Schulsystems.

INARA: Wenn Sie sich etwas wünschen dürften, was wäre das?

Schmid: Ich hätte gerne mehr Sachverstand, mehr evidenzbasierte Bildungspolitik, weniger Parteiideologie, keinen Einfluss von politischen Parteien auf die Schulverwaltung. Aber dafür Mitsprache von ECHTEN Bildungsexperten, nämlich von den Schulpartnern. Lehrer, die täglich im Klassenzimmer stehen, engagierte Eltern, Schülervertreter, Direktoren und Menschen, die mit Jugendlichen arbeiten wie z.B. Lehrlingsausbildner sollten unser Bildungswesen lenken dürfen.

Dr. Susanne Schmid ist Vizepräsidentin des BEV (Bundeselternverband an höheren und mittleren Schulen Österreichs) und Bildungssprecherin von Die Weis[s]e Wirtschaft – https://www.weissewirtschaft.at

Autorin: Dr. Brigitta Schwarzer

susanne_schmid [132]_web Fotocredit: Die Weis[s]e Wirtschaft / Mike Ranz