Interview: Gemeinsam sind wir klüger

Interview: Gemeinsam sind wir klüger

Last Updated on 2021-10-01
Warum Schwarmintelligenz nicht nur in der Tierwelt, sondern auch im Wirtschaftsleben funktioniert und wie sie durch die Digitalisierung noch an Bedeutung gewinnt, erläutert Anne Böhm, Kriminalpolizistin a.D., Master of Evaluation (Univ. Saarl.), im INARA-Interview.

Für Ameisen ist Schwarmintelligenz (über)lebensnotwendig: Als Einzelwesen sind Ameisen nämlich ziemlich hilflos. Als Ameisenkolonie sind sie hingegen sehr clever und agieren planvoll. Sie finden den kürzesten Weg zur besten Futterquelle, verteilen die Aufgaben an die Arbeiterinnen, legen „Bauten“ an, verteidigen ihr Revier und reagieren schnell und effizient auf ihre Umwelt. „Diese Fähigkeit, die neben den Ameisen auch andere Tiere wie z. B. Vögel oder Fische haben und die ihnen bei der Nahrungssuche und bei der Abwehr von Gefahren hilft, nennt man kollektive Intelligenz oder Schwarmintelligenz“, erklärt Anne Böhm, Kriminalpolizistin a.D., Master of Evaluation (Univ. Saarl.) „Dass man im Team bessere Ergebnisse erzielt, gilt natürlich auch für uns Menschen“, so Böhm weiter. Kollektive Intelligenz im Sinne einer gemeinsamen und konsensbasierten Entscheidungsfindung sei ein altes Phänomen. Durch neue Informations- und Kommunikationstechniken habe dieses jedoch deutlich an Bedeutung gewonnen. So könne durch das Internet auf einfache Weise das dezentral verstreute Wissen der Menschheit koordiniert und deren kollektive Intelligenz ausgenutzt werden.

Hierarchie vermeiden!

Schwarmintelligenz wird heute zunehmend auch im Wirtschaftsleben genutzt, das altbekannte Brainstorming, bei dem die unterschiedlichen Sichtweisen der Teilnehmer einfließen, funktionierte ja ebenso. Welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit die Sache Erfolg verspricht, erläutert Böhm wie folgt: „Der Schwarm organisiert sich selbst, er darf aber nicht hierarchisch strukturiert sein.“ Diversität sei unbedingt nötig, will man nicht in „Echokammern“ oder „Filterblasen“ landen. Man sollte einander innerhalb der Gruppe vertrauen, jeder dürfe „ungestraft“ seine Meinung sagen, müsse also nicht Angst davor haben, sich zu blamieren, und werde für seine Aussage auch nicht kritisiert. Nur dann kommt es zu einer Weiterentwicklung.

Böhm nennt einige Beispiele für das Wirken von Schwarmintelligenz. So verlor am 21. Mai 1968 die US-Navy den Kontakt zu einem ihrer Atom-U-Boote im Nordatlantik. Niemand wusste, was passiert war und – vor allem – wo das Boot war. Eine Suchaktion mitten im Atlantik war chancenlos, weil man zu wenig Daten über die Unfallursache und die letzte Position des U-Bootes hatte. Daher wurde ein Team von Technikern, Offizieren und Navigatoren zusammengetrommelt. Sie überlegten allesamt, was passiert sein könnte. Wie schnell fuhr das U-Boot? In welche Richtung? Wie tief usw. Aus den verschiedenen Einzelmeinungen wurde ein Mittelwert errechnet. Und tatsächlich lag das U-Boo nur 200 Meter (!) neben den so errechneten Koordinaten. Bemerkenswert daran ist laut Böhm, dass keiner der Experten auf diesen Ort getippt hatte: „Es war allein die Summe aller Vermutungen, also Schwarmintelligenz.“

Funktioniert hat die Schwarmintelligenz auch, als vor einigen Jahren vor der spanischen Küste ein Flugzeug abstürzte und dabei fatalerweise eine Wasserstoffbombe verlor. Mit der oben geschilderten Methode konnte es schnell wiedergefunden werden.

Das Challenger-Beispiel

Böhm hat ein weiteres Beispiel parat. Im Jahr 1986 verunglückte die US-Raumfähre Challenger. Fünf börsenotierte Unternehmen hatte dafür Bauteile an die NASA geliefert. Bei vier der Aktien gab es nach der Explosion kräftige Kursverluste, denen jedoch bald eine Erholung folgte. Nur die Aktien jenes Unternehmens, das die Feststoffraketen für Challenger geliefert hatte, stürzten ins Bodenlose und blieben im Keller. Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass tatsächlich die fehlerhaften Raketen zu dem Unglück geführt hatten. Insiderhandel konnte ausgeschlossen werden. Allerdings ahnte jeder der Marktteilnehmer ein bisschen etwas, spekulierte nach seinem Bauchgefühl oder folgte dem Beispiel der anderen. Letztlich behielt der Markt recht.

Wenn Gruppen zusammenarbeiten, können also koordinierte sinnvolle Entscheidungen entstehen. Dabei ist ein Effekt der Rückkopplung zu beobachten: Jedes Individuum richtet sein Verhalten an jenem seines Nachbarn aus und beeinflusst seinerseits dessen Verhalten.

Für Unternehmen kann Schwarmintelligenz einen klaren Wettbewerbsvorteil bringen, betont Böhm. So nutzt der deutsche Autohersteller BMW dieses Prinzip bei seinem sehr erfolgreichen Co-Creation-Lab. Dabei handelt es sich um eine virtuelle Plattform, auf der sich alle Automobil-Interessierten mit ihren Ideen und Vorschlägen einbringen können.

Es funktioniert auch an der Börse

In der Logistik, bei der Routenplanung von LKW, bei Paket-Zustellern, der Steuerung von Ampelanlagen oder der Erstellung von Flugplänen werden heute mathematische Verfahren eingesetzt, die das Prinzip der kollektiven Intelligenz oder Schwarmintelligenz imitieren. Die Basis dazu entwickelte im Jahr 1991 der Informatiker Marco Dorigo von der Freien Universität Brüssel.

Als Musterbeispiel für erfolgreiche Schwarmintelligenz sehen viele Experten den Nachrichtendienst Twitter. Spannende Nachrichten finden dort rasend schnell Verbreitung, während langweilige Texte bereits nach wenigen Tweets im Daten-Nirwana landen. Auch die Internetenzyklopädie Wikipedia basiert auf Schwarmintelligenz.

Dass die Kapitalmärkte Schwarmintelligenz besitzen, hat sich nach Meinung von Finanzmarktexperten wieder einmal im Vorjahr gezeigt. Nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie stürzten die Aktienkurse zunächst massiv ab, legten aber bereits nach wenigen Wochen eine spektakuläre Aufholjagd hin. Offenbar waren die Akteure auf den Kapitalmärkten, deren Zahl weltweit ja in die Millionen geht, der Meinung, dass das Corona-Virus eine „Naturkatastrophe“ und damit überwindbar sei. Langfristige Folgen für das gesamte Wirtschaftssystem seien nicht zu erwarten.

Es gibt auch Schwarmdummheit

Natürlich kann die Sache auch kippen, betont Böhm. Probleme gibt es vor allem dann, wenn sich die Gruppenmitglieder zu ähnlich sind oder einige wenige die Debatte beherrschen. Dann droht Mittelmaß oder gar Schwarmdummheit. Wie aus Schwarmintelligenz kollektive Dummheit werden kann, hat ein Forscherteam der ETH Zürich durch Experimente herausgefunden. Sobald Menschen nämlich erfahren, dass andere über ein Problem anders denken als sie selbst, ändern sie ihre eigene Meinung – zumindest ein bisschen. Wenn sich das Zusammenwirken von Individuen total negativ auswirkt, kommt es zum Herdentrieb. Den konnte man beispielsweise bei der Finanzkrise 2008 eindrucksvoll beobachten. Dass der Herdentrieb bei den Lemmingen zu einem Massen-Selbstmord führt, ist aber bloß ein – durch einen Disney-Film genährter – Mythos.


@hoehner-fotografie.de

Anne Böhm hat kürzlich im Rahmen einer Veranstaltung des gemeinnützigen Vereins „Best Ager – gemeinsam aktiv und lebensfroh“ (www.itraumi.at) einen Vortrag zum Thema Schwarmintelligenz gehalten.

Autorin: Brigitta Schwarzer