Porträt – Der dreißigjährige Zwölfjährige: Wie tickt die Generation Alpha?

Porträt – Der dreißigjährige Zwölfjährige: Wie tickt die Generation Alpha?

Last Updated on 2022-10-20
standard.at / Sara Geisler, 9.10.2022

Unterwegs mit der jüngsten, schlausten und furchteinflößendsten aller Generationen

Es war Valentinstag und ich versehentlich auf einem Network-Event. “Rico macht eine Kantine in Berlin-Adlershof auf, Eröffnungsfeier, wird sicher lustig!”, hatte mein Bruder gesagt, der gerade geschäftlich in der Stadt war. Berlin-Adlershof ist wie die Seestadt Aspern in Wien, nur weniger zentral: kubistische Neubauten, tiefe Terrassen, aerodynamische Bürokomplexe. Die Anfahrt würde eine Stunde dauern, Bus, S-Bahn, Bus, aber ich dachte an Gratishäppchen und klatschte mir etwas Glow ins Gesicht.

“Hier können Sie Ihre Visitenkarten positionieren”, sagte eine straffe Frau am Eingang und deutete auf eine Art Postkartenständer. “Leider habe ich keine”, beteuerte ich leise, die Frau aber sah mich an, als hätte ich den Satz gerülpst. Sie streckte mir eine winzige Klarsichthülle entgegen, die ich mir an den Pulli klemmen sollte, und als ich die Handflächen wieder hilflos nach oben drehte, ein leeres Kärtchen dazu. Ich malte ein riesiges Smiley und darunter in Großbuchstaben S A R A. Im Nachhinein gesehen ein prophetischer Akt.

Mein Bruder war noch nicht da, also nahm ich zwei randvolle Sektflöten und suchte einen freien Stehtisch. Von dort aus beobachtete ich nippend das Treiben, immer abwechselnd aus einem Glas: Hände wurden geschüttelt, Karten wurden getauscht, Kommunikation wurde betrieben. Ich versuchte, beschäftigt auszusehen, was gar nicht so einfach ist, wenn man nur herumsteht.

Plötzlich sah ich einen, der nicht in das Treiben passte. Er trug ein T-Shirt über einem Longsleeve. Er schlich nicht verloren umher, sondern schritt zielstrebig. Trank er sich locker? Nein, er genoss eine Rhabarberschorle. Erik, so wusste jemand am Nebentisch, war der Sohn des Gastgebers und zwölf.

“Na, Erik, wie läuft’s?!”, sagte ich ein bisschen zu laut, vor Erleichterung. Zwölfjährige nämlich haben keine Visitenkarten. Zwölfjährige haben keine ETFs, die sie vergleichen müssen, und auch kein Business, das sie auf das nächste Level zwingen wollen, höchstens ein paar bunte Avatare.

“Es läuft,” sagte Erik.
“Und was machst du so?”
, fragte ich.
“Schule gehen.”

Erik trug eine rasante Frisur – die Seiten kurz, den Rest leicht nach rechts gegelt.
“Wie findest du das neue Lokal von deinem Papa?”, fragte ich.
“Ist nicht mein richtiger Papa”, 
sagte Erik.
“Oh, das tut mir, äh, …” 
Hitze stieg in meinen Kopf.
“Aber spielt keine Rolle”
, sagte Erik.
“Paddy hat das richtig toll gemacht.”
“Paddy?”
, fragte ich.
“Teddy.”
“Teddy?”
“D a d d y”
, sagte Erik zum dritten Mal, “– na, mein Stiefvater.”
“Ahhhh”
, machte ich, “ich habe Paddy verstanden, wie Paddington, der Bär.
Paddy – Daddy – Teddy – Paddy …”

Was redete ich da?

Erik schaute amüsiert und führte sich langsam eine mit Zitronencreme gefüllte Dattel in den Mund.

Generationenübergreifend: Eriks Smartphone steckt in einer aufklappbaren Lederhülle, die auch Boomern gefallen würde.

“Schau mal, was ich heute Krasses auf Instagram gesehen habe!”, sagte ich und fingerte in meiner Handtasche. Auf dem Video war ein Mann zu sehen, der über dem Meer schwebte, an den Füßen eine Art Skateboard, aus dem zwei Wasserstrahlen schossen.

“Ach so, ein Flyboard”, sagte Erik nur.

Ich ließ das Handy sinken. Erik griff nach einem weißen Geleewürfel, der nach Tomate roch. Ich wollte lieber keine weißen Geleewürfel essen, die nach Tomaten rochen, schob mir aber gleich drei in den Mund.

Am nächsten Morgen schüttelte ich noch immer den Kopf. Was war das?, schrieb ich in mein Tagebuch. Ist so die neue Jugend? Wer ist überhaupt die neue Jugend?

Noch ist wenig über die Generation Alpha bekannt. Ihre Vertreter leben unter dem Radar der Trendforscher, ihre Kaufkraft beschränkt sich auf Taschengeld, wenn überhaupt: Die ersten Alphas erblickten 2010 das Licht der Welt, zusammen mit dem ersten iPad, die letzten werden es 2025 tun. Die Alphas sind die Kinder der Millennials und die ersten echten Digital Natives: Sie swipen, bevor sie sprechen.

Ausgedacht hat sich die Bezeichnung ein australischer Sozialforscher namens Mark McCrindle. Er glaubt, der Sprung von Z zu Alpha sei der bedeutendste in der Geschichte. Seinen und noch ein paar anderen Studien zufolge ist die Generation:

Super schlau

Super gebildet

Überbehütet

Extrem flexibel, aber auch gewohnt, dass sich alles auf sie einstellt, von den Eltern bis zur Innenbeleuchtung

Wenig begeisterungsfähig

Nicht altersgerecht spielend

Sich in der realen Welt schwertuend

Sprachlich defizitär

Außerdem grenze sich die Generation nicht von ihren Eltern ab und rebelliere kaum. Sie esse ungesund, aber lebe trotzdem ewig.

Zwei Wochen später saß ich wieder im Bus nach Adlershof. Sicher würde Erik zu spät kommen. Griechische Buchstaben kündigen immer Unheil an, dachte ich und notierte: “Delta, Omikron, Gammastrahlung.” Ich dachte an US-amerikanische Studentenverbindungen und an Alphatiere mit Omega-Uhren, die Betaversionen ihrer Apps launchen.

Erik kam pünktlich auf einem Hoverboard mit blauer Unterbodenbeleuchtung. Ich strich “Probleme mit Verbindlichkeiten und Ortsgebundenheit” von der Liste.

Wir entschieden, erstmal eine Runde durch die nahegelegene Kleingartensiedlung zu spazieren. Erik trug Adidas-Sneaker mit Klettverschluss und Schuhbändern und einen Anorak von Decathlon.

“Sogar die Jackentasche ist flauschig gefüttert”, sagte Erik und holte sein Handy raus. Es steckte in einer dieser aufklappbaren Lederhüllen, wie sie eigentlich nur Boomer haben. “Ich find se praktisch“, sagte Erik, der seit einigen Jahren Berliner ist. Nur ab und zu hört man noch den Sachsen raus. “Da stecken logger zehn Karten drinne.”

Wann hast du dein erstes Handy bekommen?”, wollte ich wissen. “Mit neun”, sagte Erik, und ohne dass ich danach gefragt hätte: “Ein Motorola G5.”
“War das schon ein Smartphone?”

“…”

“Also eins mit Internet?”

“Ach sooo, jaaa. Es konnte nicht so viel wie mein iPhone 8, aber ich durfte mir sowieso keine Spiele runterladen – jetzt schon, aber nur mit einem Code, den weiß meine Mutter, und den bekomme ich mit vierzehn.”

Je länger ein Satz, desto höher ging Eriks Stimme am Ende nach oben.

“Und was spielst du so?”

“Bitlife und Clash Royal. Meine Eltern sind keine Fans von Schießspielen, Fortnite zum

Beispiel darf ich nicht. Aber find ich nicht schlimm, dann spiel ich halt Minecraft.” Keine Rebellion, notierte ich.

“Spielst du viel?”, fragte ich.

“Minecraft ist bei mir total gehypt, da habe ich über 650 Spielstunden. Aber nicht auf dem Handy, sondern auf der Switch”, sagte Erik.

Eriks Eltern sind weder arm noch reich. Trotzdem besitzt er neben der Switch, einem Hybrid aus Gameboy und Playstation: eine Digitalkamera, eine Drohne, einen 3D-Drucker ANYCubic i3 Mega s.

“Sind deine Freunde alle so technikversiert?”, fragte ich.
“Die meisten, ja. In meiner Klasse sind auch drei Programmierer,” 
sagte Erik.
“Und wer sind deine besten Freunde?”
“Felix und Elias.”
“Und warum?”

Erik zuckte mit den Schultern.
“Die teilen halt meine Interessen.”
“Wenn ihr euch trefft, was macht ihr dann so?”
“Spielen Computerspiele auf unseren Laptops”
“Ah, du hast auch einen Laptop?”
“Das sind Schullaptops. Das Einzigste – ne, E i n z i g e”,
 korrigierte Erik, “was nicht gut daran ist: Die sind sehr alt. Dementsprechend schwer ist unser Ranzen.”

Ein Hund kläffte und Erik erschrak. Ich erschrak, dass Erik erschrak. Bis jetzt hatte es gewirkt, als wäre die analoge Welt für ihn mehr eine Nebenerscheinung. Computerspiele und Multitasking erzeugen eine flache Aufmerksamkeit, warnt der Philosoph Byung-Chul Han, die “der Wachsamkeit eines wilden Tieres” ähnelt. Es kann sich nicht kontemplativ versenken, weil es ständig aufpassen muss, beim Fressen nicht selbst gefressen zu werden. Das Erste, das Erik 3D-gedruckt hat, war eine selbst entworfene Halterung für die Switch. So kann er weiterspielen, während der Akku lädt.

“Macht ihr auch mal was anderes als Zocken?”, fragte ich.
“Klar.”
“Zum Beispiel?”
“Manchmal sitzen wir auf einer Bank. In der Schule gibt es einen, der sitzt immer allein auf einer, zu dem gehen wir oft.”
“Warum sitzt der allein?”
“Warum nicht.”
“Und worüber redet ihr dann so?”
“Na über alles.”
“Auch über Mädchen?”
“Selten.”
“Hast du eine Freundin oder einen Freund?”
“Hatte.”
“Was ist passiert?”
“Hat sich ausgelebt.”

Wir schwiegen bis zum nächsten Gartenzaun.

“Ihr Cousin ist bei mir auf der Schule”, sagte Erik dann. “Der rempelt mich manchmal an. Aber ich glaube, der hat grad mit sich selbst zu kämpfen.”

Wir bogen auf eine Straße am Kanal namens “Am Kanal”. Erik erzählte von seinem Opa in Thüringen, mit dem er manchmal malt und der Donald-Duck-Ausgaben mit zweistelligen Bandnummern hat. Er erzählte, dass seine Klasse noch nie auf einer Demo war, auch nicht bei Fridays for Future, und er persönlich mehr auf die Klimaforschung zähle.

Erik berichtete von Plänen für eine Mondbasis, auf der man durch Elektrolyse Sauerstoff erzeugen kann, von seinen eigenen Plänen, Architekt zu werden und dass er Ersteres wählen würde, wenn er sich bei einem Job zwischen Spaß, Geld und Anerkennung entscheiden müsste. Ein bisschen schimpfte er über Erwachsene, die sich nicht immer über die Kinder stellen bräuchten, aber sonst okay wären.

Gibt es eigentlich irgendetwas, das dich richtig nervt?”, fragte ich.
“Nö.”
“Gar nichts?”
“Körperliche Gewalt find ich nicht gut, aber sonst …”
“Lehrer? Schlafenszeiten? Handyregeln?”
“Nö.”
“Dich regt nie etwas auf?!!”, 
regte ich mich auf.
“Wenn Leute sehr schüchtern sind vielleicht, dann kann ich sie nicht einschätzen.”
“Aber mit dem auf der Bank verstehst du dich doch auch”, wandte ich ein.

“Der ist nicht schüchtern, der ist zurückhaltend. Er schreit nicht als erstes ‚Ich‘, aber in den wichtigen Momenten sagt er, was er denkt.”

Wir entschieden, dass es an der Zeit für die Drohne wäre. Vorsichtig zog Erik sie aus seinem giftgrünen Turnbeutel, zusammen mit vier Akkus.

“Wenn du mal so alt bist wie ich”, fragte ich, während die Drohne über unseren Köpfen surrte, “wie wird die Welt dann aussehen?”
“Ach, das ist so weit weg …”
, sagte Erik.

Ich sah ihn beleidigt an.

“In zwanzig Jahren, da kann so viel passieren! Vielleicht wird die Welt dann von einem einzigen Staat regiert!”
“Wäre das was Gutes oder was Schlechtes?”

Erik drückte zwei Knöpfe, und die Drohne machte einen lustigen Salto. Ich kicherte.

“Weiß nicht. Ich fände gut, wenn die Welt die Welt wäre und nicht einzelne Länder. Dann könnten uns auf das Wichtige konzentrieren.”
“Und das wäre?”
“Zum Beispiel den Menschen und das Universum erforschen. Auf jeden Fall nicht irgendwelche Kriege führen.”

Wie Erik erfahren hat, dass Putin in der Ukraine einmarschiert ist, will ich wissen.

“Tagesschau.”
“Du schaust Tagesschau?”
“Ja, Mama, Daddy und ich schauen während der Kuschelzeit eigentlich immer”, 
sagte Erik.
“Kuschelzeit?”
“Wir haben da so einen weichen Teppich. Auf dem liegen wir oft und sprechen über unseren Tag und was uns so beschäftigt.”
“Und wer beruft das Kuscheln ein?”
“Wer als Erstes mag.”
“Und wie?”
“Na ja, er sagt halt: ‚Ich würd gern kuscheln.‘”

Wir hatten noch einen vollen Akku, aber mir wurde kalt und auch ein bisschen langweilig. Meine Geschwister und ich hatten gebettelt, wann immer meine Eltern an einem großen M vorbeigefahren waren. Ganz in der Nähe leuchtete jetzt eines gelb. Ich schlug vor, einzukehren und alles zu bestellen, worauf wir Lust hatten.

“Nö, danke”, sagte Erik, “essen wir doch einfach in der Kantine.”

Die Stühle standen schon auf den Tischen, der Boden war gewischt. Nur am Nebentisch saßen noch Eriks Eltern und planten einen Familiengeburtstag. Als unsere Weckgläser leer waren (Curryreis mit Rosinen), kurvte er noch ein bisschen mit dem Hoverboard zwischen den Tischen herum. Nach jeder Runde küsste er ein Elternteil auf den Mund.

Dann sagte Erik: “Jetzt ein Walzer!”

Im Hintergrund düdelte Ambient Music, als sie Arm in Arm durch die Kantine tanzten, Erik auf dem Hoverboard, der Stiefvater auf dem Boden, durch Eriks Helm waren sie fast gleich groß.

“Huiii!”, rief die Mutter.
“Rock and rolll!”, rief der Vater.
“Wohooo!”, 
rief Erik.

Diese Generation, dachte ich, wird nicht ins Schwimmbad einbrechen oder per Anhalter reisen. Sie wird sich nicht den Magen auspumpen lassen und wahrscheinlich braucht sie auch keine Pille danach. Der Coming-of-Age-Film wird aussterben, der letzte einzig aus Sprechszenen bestehen, dazwischen Screenshots und Drohnenaufnahmen – finnische Fjorde, Neusiedler See, so was.

Das Tun der Generation Alpha mag wenig filmreif wirken. Aber niemals ist man tätiger, sagt Hannah Arendt, als wenn man dem äußeren Anschein nach nichts tut. Von einem Erik auf eine ganze Generation zu schließen ist natürlich schwierig. Aber wenn sie nur ein bisschen ist wie er, könnten wir die Kurve kriegen. Wenn ein Zwölfjähriger sagen kann, dass alles, was er gerade braucht, eine Umarmung ist, wenn er nicht erst 300 Therapiesitzungen braucht, um es zu sagen, wenn er nicht erst fünf Nasen brechen muss, dann ist das für die Menschheit epischer als jede Mondlandung.

Als mich Erik rausbrachte, gab er mir die Hand, ganz förmlich. “Falls du mal irgendwas brauchst”, sagte er, “ich druck es dir gerne aus.”

 

Die Generation Alpha umfasst die Jahrgänge zwischen 2010 und 2025.

Quelle: Der dreißigjährige Zwölfjährige: Wie tickt die Generation Alpha? – Mehr Lifestyle – derStandard.at › Lifestyle