„Zankapfel“ Impfpflicht oder „Alter Wein in alten Schläuchen“

„Zankapfel“ Impfpflicht oder „Alter Wein in alten Schläuchen“

Last Updated on 2021-11-25
Viele Impfskeptiker fürchten die Nebenwirkungen einer Impfung mehr als die Krankheit selbst. Impfschäden werden massiv überschätzt, in Österreich traten bei mehr als acht Millionen Kinderimpfungen bloß sieben Fälle von echten Impfschäden auf. Um einen Kollektivschutz zu erreichen und Krankheiten letztlich zu eliminieren, sind hohe Durchimpfungsraten nötig.

Brigitta Schwarzer

Über eine generelle Impfpflicht wird in Österreich nicht erst seit Corona heftig diskutiert. Bereits am 11. Juni 2019, also Monate vor Ausbruch der Corona-Pandemie, fand eine Veranstaltung der Weis[s]en Wirtschaft zum Thema „Impfpflicht – individuelle Freiheit vs. kollektiven Schutz?“ statt. Anlass war damals das verstärkte Auftreten von Masern. Es ist überraschend, wie ähnlich, um nicht zu sagen gleichlautend, die Argumentationslinien zur Corona-Diskussion laufen. Es ist daher durchaus lohnend, das Thema Impfpflicht etwas außerhalb der aktuellen Emotionen zu beleuchten. In ihrer Keynote präsentierte Frau Prof. Dr. Ursula Wiedermann-Schmidt gesundheitspolitische Überlegungen, die an Relevanz und Aktualität nichts eingebüßt haben. Wiedermann-Schmidt ist Professorin für Vakzinologie der MedUni Wien.

Eine Impfpflicht sei ein diffiziles Thema, betonte Wiedermann-Schmidt am Beginn ihres Referates. Sie verwies zunächst auf den spektakulären Erfolg der Polio-Impfung ab etwa 1955. Die bis dahin gefürchtete Kinderlähmung wurde durch die Impfprogramme in der westlichen Welt so gut wie ausgerottet. Ähnlich verlief die Entwicklung bei den hochinfektiösen Masern. „Immer dann, wenn eine Krankheit massiv zurückgedrängt wird, verschiebt sich aber die Wahrnehmung der Menschen, die allfälligen Nebenwirkungen einer Impfung treten dann in den Vordergrund,“ so die Expertin. Sie ortet beim Impfen ein Spannungsfeld zwischen Wirksamkeit und Skepsis bzw. zwischen Allgemeinwohl und Selbstbestimmung.

Eigen- und Kollektivschutz

Impfprogramme machen vor allem bei von Mensch zu Mensch übertragbaren Infektionskrankheiten Sinn. Sie sollen einerseits die einzelnen Menschen vor der Erkrankung schützen (Individualschutz), anderseits durch eine breite Durchimpfung auch einen Kollektivschutz für die Allgemeinheit ermöglichen. Wenn rundherum fast alle geimpft sind, bedeutet das auch einen gewissen Schutz für jene, die nicht geimpft werden können. „Mit dem häufig gebrauchten Begriff Herdenimmunität habe ich keine große Freude,“ so Wiedermann-Schmidt. Ziel sei es, den Krankheitserreger immer mehr zurückzudrängen und eventuell sogar zu eliminieren. Bei den Pocken sei dies durch ein weltweites Impfprogramm schließlich gelungen, die Krankheit seit Jahren ausgerottet.

Entscheidend für den Kollektivschutz ist eine hohe Durchimpfungsrate. Wie hoch sie sein muss, hängt von der Basisreproduktionszahl ab und ist bei den einzelnen Infektionskrankheiten verschieden: „Die Masern sind eine der am stärksten infektiösen Krankheiten. Eine damit infizierte Person kann bis zu 18 Personen gleichzeitig anstecken. Daher braucht man bei Masern eine Durchimpfungsrate von 95 Prozent, um die Infektionskette zu durchbrechen.“ Bei der Grippe steckt ein Infizierter zwei weitere an. Um Grippewellen zu vermeiden, wäre eine Durchimpfungsrate von etwa 50 Prozent nötig, die in Österreich aber bei weitem nicht erreicht wird.

Kosten-Nutzen-Analyse

Wiedermann-Schmidt verwies dann auf den volksgesundheitlichen Nutzen von Impfprogrammen. Sie verursachen zwar Kosten, die aber in der Regel von den Einsparungen bei Therapiekosten und eventuellen Krankenhausaufenthalten sowie der Anzahl an „geretteten“ Arbeitstagen und vor allem geretteten Lebensjahren weit übertroffen werden. Noch weit teurer sind natürlich die Lockdowns, wie wir sie jetzt leider erleben.

Warum lehnen Menschen Impfungen ab? Am häufigsten ist laut Wiedermann-Schmidt die Angst vor Nebenwirkungen, weiters fürchtet man schädliche Inhaltsstoffe, eine Schwächung des Immunsystems oder glaubt, dass es beim Impfen nur um das Gewinnstreben der Pharmabranche geht. „Die Angst vor Nebenwirkungen ist sicher das größte Impfhindernis. Viele Menschen halten diese Nebenwirkungen für gefährlicher als die Krankheit selbst,“ so die Medizinerin. Besonders in den Vordergrund tritt die Angst vor Nebenwirkungen einer Impfung dann, wenn die Krankheit selbst in der Bevölkerung kaum noch präsent ist. Das gilt hierzulande etwa für Polio oder Masern.

Natürlich können Impfungen so wie jede andere medizinische Maßnahme auch Nebenwirkungen haben, in sehr seltenen Fällen auch schwerwiegende. Diese dürfen aber nicht mit harmlosen Impfreaktionen verwechselt werden. Sowohl Nebenwirkungen als auch echte Impfschäden werden in Österreich, aber auch in der EU zahlenmäßig erfasst. Für anerkannte Impfschäden werden vom Staat entsprechende Unterstützungszahlungen geleistet.

Nur sieben Impfschäden binnen zehn Jahren

2017 wurden in Österreich bei 3,5 bis vier Millionen Impfdosen 289 Nebenwirkungen gemeldet. Bei den kostenfreien Kinderimpfungen wurden in Österreich zwischen 2008 und 2017 mehr als 8,2 Millionen Impfungen verabreicht. Dabei gab es bei jenen Impfstoffen, die noch heute verwendet werden, sieben anerkannte Impfschäden, also weniger als einen Fall pro einer Million Impfungen. Wichtig, so Wiedermann-Schmidt, sei auch die Unterscheidung, ob Reaktionen nur zufällig zeitlich mit einer Impfung zusammenfallen (Koinzidenz) oder ob es tatsächlich einen kausalen Zusammenhang gibt.

Über eine allfällige Masern-Impfpflicht gab es immer wieder Diskussion – auch in Österreich. Bis zum Jahr 2007 waren die Masern in Europa weitgehend verschwunden, seitdem stieg die Anzahl der Fälle kontinuierlich, ab 2016 dann sogar stark an und es traten auch wieder Todesfälle auf. Wegen diverser Impfhindernisse, dazu zählen auch der soziale, religiöse, wirtschaftliche oder Bildungshintergrund der Menschen, wurde die notwendige Durchimpfungsrate von 95 Prozent offenbar nicht mehr erreicht. Viele Menschen hielten die Krankheit auch einfach für harmlos. In Italien wurde daraufhin die Masernimpfung für Kinder und Jugendliche vorgeschrieben, ohne sie durfte man weder Kindergarten noch Schule besuchen. Nach 24 Monaten Impfpflicht war die notwendige Durchimpfungsrate von 95 Prozent erreicht.

Wichtig seien laut Wiedermann-Schmidt bei solchen Aktionen breite Aufklärungs- und Motivationsmaßnahmen und ein elektronisches Impfregister. Für besonders wichtig hält sie eine verpflichtende Impfung des Gesundheitspersonals. Generell gelte es, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken: „Wissen statt Glauben reduziert Ängste, Skepsis und Ablehnung,“ lautete das Fazit von Wiedermann-Schmidt.

Die unabhängige Initiative DIE WEIS[S]E WIRTSCHAFT ist ein Think Tank zur Förderung des gesellschaftspolitischen Diskurses in Österreich. Brigitta Schwarzer ist Beiratsmitglied für den Bereich Wirtschaft & Gesellschaft. Weis[s]e Wirtschaft (weissewirtschaft.at)

Über das Impfen …
Impfen ist zurzeit das Thema. Für die vielen Befürworterinnen und Befürworter, für Skeptikerinnen und Skeptiker genauso wie für Gegnerinnen und Gegner.
Ein Booklet schlägt die Verwendung einer sorgsamen und präzisen Sprache vor und bringt konkrete Vorschläge. Weis[s]e Wirtschaft (weissewirtschaft.at)