DIE FÜNFTE GEWALT: Von der Mitverantwortung der Wirtschaftseliten für das Gelingen oder Scheitern der Globalisierung

DIE FÜNFTE GEWALT: Von der Mitverantwortung der Wirtschaftseliten für das Gelingen oder Scheitern der Globalisierung

Last Updated on 2018-05-03

DI Prof. Günter Koch, manager lounge Wien

Hon. Prof. Dr. Wilfried Stadler war am 24. April in der manager lounge Wien zu Gast. Bei seinem Vortrag und der anschließenden Diskussion stand die Frage der Neudefinition einer Ordnungspolitik in disruptiven Zeiten auf der Basis einer neuen und gestärkten Demokratie im Zentrum.
Dr. Stadlers ausführliches Eingangsreferat, dem alle Teilnehmer mit Spannung folgten, begann mit einer geschichtlichen „Vue d’Horizon“ zu Fragen von Globalisierung und Wachstum, beides in der Geschichte des letzten Jahrhunderts bis jetzt – mit Unterbrechung der Weltkriege – eine Erfolgsgeschichte mit einem „kleinen Knick“ in den Jahren der jüngsten Finanzkrise. Diese Geschichte lässt sich statistisch festmachen an Wohlstand / Befreiung aus der Armut (nach Bruttosozialprodukt pro Kopf), Lebenserwartung / Gesundheit, Bildung / Fähigkeit zu lesen und zu schreiben. Der Großteil der Menschen profitierte von der Wohlstandsentwicklung, wenn auch nicht übersehen werden darf, dass es in der Vermögensspitze zu Konzentrationen gekommen ist. Gerade Österreich hat von dieser in Summe positiven Entwicklung überdurchschnittlich profitiert.
In einem zweiten Abschnitt nahm sich Dr. Stadler das Thema Disruption vor, das er anhand von Innovationen und deren Marktdurchsetzungsgeschwindigkeiten festmachte: Benötigte das klassische Telefon noch 50 Jahre bis zur Marktsättigung, dauerte die flächendeckende Einführung der Mobiltelefonie nur eine Dekade. Zugleich verschoben sich die Gewichte der weltweiten Wirtschaftskraft nach Fernost, insbesondere nach China. Auffällig ist, dass die Wohlstandsverteilung – gemessen am sog. Gini-Koeffizienten – sich in China am ungünstigsten entwickelt, d.h. die Schere zwischen arm und reich geht dort so dramatisch auseinander wie sonst nirgendwo.
Dr. Stadler ging dann den Ursachen einer sich abzeichnenden Globalisierungskrise auf den Grund, die er in folgenden disruptiven Ereignisketten erkennt (Zitat aus seinem Vortrag):

  • Arbeitsmarkt- und wettbewerbspolitische Herausforderungen in Folge der digitalen Plattform-Technologien / Digitale Medien / Artificial Intelligence
  • offene Fragen nach der zukünftigen Struktur des freien Welthandels
  • Steuer- und verteilungspolitische Konzeptionen im Umbruch
  • unbewältigte Folgen der Finanzkrise und ihrer systemischen Ursachen

Diese gehen einher mit folgenden Entwicklungen:

  • Machtverschiebungen hin zu Marktwirtschaften ohne Demokratie
  • Der auf nationalstaatliche Rechtsfundierung gebaute Sozialstaat wird mit der Wanderungsfreiheit im EU-Binnenmarkt herausgefordert
  • Europäische und supranationale Regulierungen überlagern herkömmliche nationale Rechtsrahmen

Die Schlussfolgerung von Dr. Stadler lautet, dass sich unser Wirtschaftssystem in einer gravierenden Legitimationskrise befindet, was konsequenterweise die Frage nach einer neuen Wirtschaftsethik und Managementverantwortung aufwirft, die sich insbesondere in Übergängen und Grauzonen (un)verantwortlichen Handelns in und für Unternehmen manifestiert. Diese Übergänge lassen sich feststellen anhand folgender Phänomene:

  • Vom vorteilhaften Geschäft zur Übervorteilung …
  • Vom professionellen Ausschöpfen rechtlicher Grenzen zur Rechtsbeugung und grenzlegalen „Gestaltung“ …
  • Von angemessener Erfolgsbeteiligung zu maßloser Bonus-Abzockerei …
  • Von engagierter Geschäftsanbahnung im internationalen Wettbewerb zu korrupten Praktiken …
  • Vom Gewinnstreben zu unersättlicher Profitgier …

Als Beispiele aus der Finanzwirtschaft lassen sich etwa zitieren

  • LIBOR-Manipulation: Verfälschung des wichtigsten Geldmarkt-Indikators
  • Devisen-Fixing: Kursmanipulation
  • Verbriefung (Securitization): irreführende Methodik der Rating-Agenturen, Kundentäuschung durch Investmentbanken
  • Beihilfe zur Steuerhinterziehung / Cum-Ex-Affäre / Geldwäsche

sowie in der Realwirtschaft Beispiele wie…

  • Korruption (bis Mitte der 90-er Jahre waren in Österreich Kosten der Geschäftsanbahnung als „Nützliche Aufwendungen“ steuerlich absetzbar!)
  • Steueroptimierung vs. Tax-Evasion

Zur Frage einer neuen Ethik in der Unternehmensführung unterscheidet Dr. Stadler diese vier Ebenen:

  1. Die Mikroebene: individual-ethisches Handeln im Rahmen von Spielregeln (Compliance / Code of Conduct) Vertrauen, Anstand
  2. Die Meso-Ebene der verantwortlichen Unternehmensführung (Corporate Governance) Unternehmenskultur
  3. Die Makroebene der Mitverantwortung (Corporate Social Responsibility) für andere vom Handeln der Unternehmen und Organisationen betroffenen Gruppierungen (Stakeholder) – wirtschaftsethische Entscheidungsfragen im Zusammenhang mit sozialen und ökologischen Zielkonflikten (Lieferketten, Arbeits- und Produktionsbedingungen in Zulieferländern …) Unternehmenskultur im Verhältnis zur umgebenden Gesellschaft
  4. Die Metaebene der sozial-ethischen Mitverantwortung für die Gestaltung geeigneter Rahmenbedingungen des Wirtschaftens – Mitverantwortung für das gesellschaftliche Ganze.

Insbesondere diese 4. Ebene wurde zum Gegenstand für die weitere Diskussion, die folgende Fragen aufwarf:

  • Kann immer genauere / komplexere Regulierung die Eigenverantwortung ersetzen? (vgl. Diskussionen zur Antikorruptionsgesetzgebung, Datenschutzverordnung, Wertpapierrecht …)
  • Hilft oder schadet die zunehmende Verstrafrechtlichung des Wirtschaftsrechts?
  • Haben wir eine Mitverantwortung für die Ausformung der „richtigen“ Spielregeln?

Hierzu erläuterte Dr. Stadler seine Sicht der historischen Entwicklung der Ordnungspolitik seit Adam Smith, die er für die letzten 20 Jahre wie folgt analysiert:

  • 1989 Ostöffnung – Ende der Systemkonkurrenz Markt- versus Planwirtschaft, aber kein „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama)
  • Globalisierte Wettbewerbswirtschaft – Erweiterung von Binnenmarkt-Modellen (EU/ASEAN/NAFTA), Freihandelsabkommen, globale Arbeitsteilung
  • Angloamerikanischer versus kontinentaleuropäischer Wirtschaftsstil (in Verbindung mit zwei sehr unterschiedlichen Finanzierungskulturen)
  • Aufstieg eines neuen Typus marktwirtschaftlich erfolgreicher, autokratischer Regime (Marktwirtschaft ohne Demokratie – „Singapur-Modell“ (P. Sloterdijk))

Prof. Stadler zieht daraus folgende Schlüsse, um zu einer sozial und ökologisch verantworteten Marktwirtschaft („responsible capitalism“) zurückzufinden:

  • Die ordnungspolitischen Leitbilder befinden sich im Umbruch, ebenso das europäische Projekt und die Grundlagen der Mainstream-Wirtschaftstheorien
  • Es liegt in der sozial-ethischen Verantwortung von Führungskräften, an der Gestaltung der „richtigen“ Spielregeln einer erneuerten Wirtschaftsordnung mitzuwirken
  • In Analogie zum Konzept der „triple bottom line“ (dreifach positive Bilanz hinsichtlich Profitabilität + ökologischer + sozialer Nachhaltigkeit) geht es auf ordnungspolitischer Ebene um ein Wirtschaftssystem, in dem sachgerechtes, menschengerechtes und umweltgerechtes Handeln der Einzelnen auch gesamtgesellschaftliche Früchte trägt und damit den langfristigen sozialen Zusammenhalt zu sichern hilft.

In der Finanzwirtschaft zeigt sich das Ringen um die richtige Rahmenordnung in folgenden Bereichen:

  • Suche nach neuen Spielregeln – unterschiedliche Antworten auf nationaler / europäischer / globaler Ebene (G20 / OECD/IWF)
  • Mitwirkung außerstaatlicher Institutionen in Fragen der Bilanzierungsstandards, Bankenregulierung (BIZ-Basel)
  • Abgrenzung von den Partikularinteressen globaler, systemrelevanter Großbanken mit starker Durchsetzungsmacht

Es geht dabei um einen interessenspolitischen Machtkampf zwischen WALLSTREET und MAINSTREET.
Diesen Konflikt charakterisierte Sheila Bair, US-Ökonomin und Leiterin der US-Bankenaufsicht FDIC 2006-2011, im “Wall Street Journal” am 13. 09.2013 wie folgt (Zitat nach Dr. Stadler) : “Main Street wants reform, but Wall Street wants to keep its profits. Not only do a number of very important rules remain incomplete, but industry lobbyists keep trying to re-open and weaken those which have already been finalized, while fighting every comma in every proposed rule. This is short-sighted for an industry whose long term success ultimately relies on the public trust.”
Mit einem weiteren Zitat von Peter Drucker: „Freie Marktwirtschaft kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie gut für die Wirtschaft ist, sie kann nur damit gerechtfertigt werden, dass sie gut für die Gesellschaft ist“ schloss Prof. Stadler mit folgenden programmatischen Ansagen:
Die ordnungspolitische Mitverantwortung der Wirtschaftseliten ist so neu wie unverzichtbar – nicht nur als wirtschaftsethisches Gebot, sondern auch im wohlverstandenen Eigeninteresse. Die Wirtschaftseliten haben sich als „fünfte Gewalt“ zu verstehen, d.h. die klassische Gewaltenteilung zwischen Legislative (Gesetzgebung) – Exekutive (Verwaltung) – Judikative (Gerichtsbarkeit) muss neben den Medien und NGO´s, die ihre Funktion als „vierte Gewalt“ schon heute wahrnehmen, durch eine weitere wirkungsmächtige „Gewalt“ ergänzt werden, innerhalb derer Unternehmensverantwortliche zu Mitgestaltern des globalen Wandels werden. D.h. Medien und NGO´s, die als „Vierte Gewalt“ ihre Funktion schon heute wahrnehmen, seien durch Wirtschaftseliten als „Fünfte Gewalt“ zu ergänzen: In einem noch weiter gefassten Begriff von Governance ließen sich auch Wissenschaft/Forschung und die Zivilgesellschaft als mitgestaltende „Gewalten“ definieren.
Konkrete Handlungsanweisungen dazu wurden zuletzt vom Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos in Form der „WEF Inclusive Growth and Development / Key Performance Indicators“, die auf nationalen Ebenen zu realisieren sind, in diesen Kategorien vorgeschlagen: Wachstum und Entwicklung, Inklusion, Gerechtigkeit zwischen den Generationen sowie Nachhaltigkeit.
Als übergeordnetes Rahmenwerk nennt Prof. Stadler die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN für geeignet, deren Indikatoren den Handlungsrahmen für eine zukünftig bessere Welt setzen könnten.
In der abschließenden Diskussion wurde herausgearbeitet, dass zur Schaffung einer neuen Wirtschaftsordnung die Erneuerung, Stärkung und ggf. Neudefinition der Demokratie die wesentliche Basis bildet. In diesem Prozess sind insbesondere die NGOs als Akteure und als „Disputanten“ gefordert, um in der Auseinandersetzung zu einem neuen, ausgewogenen Gesellschaftsvertrag und zu einer neuen Ordnungspolitik zu gelangen.
Ein Abend mit sehr viel Tiefgang und Einsichtsgewinn, für den sich die Teilnehmer mit starkem Applaus bedankten.
P.S. Weitere Informationen zu und von Dr. Stadler finden sich unter www.wilfried-stadler.com