„Über den Stress“

„Über den Stress“

Last Updated on 2018-01-26

Bernd Späth

Der Wortschwall des Anrufers steckt einen selber an, wenn man nicht aufpasst: „Verstehn Sie, ich brauch n Stressmanagement. Coachen Sie sowas, wie lang dauerts, was kostets und geben Sie ne Erfolgsgarantie?“ „So wie Sie sich anhören, geb ich Ihnen jedenfalls die Garantie, dass Sie bald auf der Schnauze liegen.“ – Manchmal hilft halt nur rohe Gewalt gegen sowas. „Wie? Was? Wie meinen Sie?“ „Erschöpfungsdepression oder psychophysischer Kollaps würde mich jedenfalls nicht wundern.“

Als Antwort eine erneute Wortexplosion, die mir auf vorwiegend technische Art erklärt, es handle sich letztlich bloß um eine Frage des „Handlings“. „Zeitmanagement, verstehen Sie? Prio-Management…“ und dazu noch ein paar Amerikanismen aus dem letzten Managerseminar. Man ist ja up to date. Und selbstoptimiert, dass es raucht. Nur die Herzkranzgefäße nicht. „Und das, obwohl er doch sooo viel Sport gemacht hat!“ – R.I.P.

Wer heilt bzw. hilft, hat Recht. Das Ergebnis legitimiert die Methode. Drum ist nichts einzuwenden gegen Stressmanagement, es kann einem die Arbeits- und Lebenssituation erheblich erleichtern. Allerdings, wer sich die Vielzahl möglicher Stressoren zu Gemüte führt, dem wird sich die Frage aufdrängen, in welchem Ausmaß dem Problem rein mit Methodik beizukommen ist. Denn was steckt dahinter, dass eine/r aus dem Stress überhaupt nicht mehr rauskommt?

„Viele Beschwerden, mit denen Patienten zu uns kommen, sind Reaktionen auf Defekte ihrer Beziehungshaut durch ‚zerrissene‘ oder ‚verknotete‘ Beziehungen zu ihrer Mit-Welt.“, schreiben Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiack in Uexkülls 1300-Seiten-Klassiker „Psychosomatische Medizin“. Und sie ergänzen: „Therapie heißt Antworten geben, die dem Patienten zeigen, dass die Zeichen, die er auf einer körperlichen, psychischen oder sozialen Ebene sendet, verstanden werden und ihn in die Lage versetzen, seine Wirklichkeit in zunehmendem Maße salutogenetisch zu gestalten.“

Das „Stressproblem“ des Klienten ist also nicht das wirkliche Problem, sondern die Sichtbarwerdung eines tieferliegenden Konflikts, mittels derer er um Hilfe ruft. Man spricht von „Appellcharakteristik“. Das allerdings wird allzu oft übersehen oder bewusst ignoriert. Wer stellt schon gern sein Selbst- und Weltbild in Frage, das bisher doch „funktioniert“ hat? Und wer hat den Mut, auf Notsignale eines Gegenübers einzugehen, die sich hinter Schneidigkeit und „Dynamik“ verstecken? Noch dazu, wo „Gestresste“ eine Rückwirkung auf die gesamte Umgebung ausüben und sie mit hineinziehen in den Stress. – Gerade hier aber gilt der alte Lehrsatz: Wenn es ansteckend wirkt, ist es pathologisch. Cave!

Um nochmals Uexküll/Wesiack zu zitieren: „In biologischen Systemen und Regelkreisen aktiviert Stress zunächst die klassischen Stress-Achsen: Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA) mit Ausschüttungen von Kortisol sowie die sympathische Achse (SA) mit Ausschüttung von Noradrenalin und Adrenalin. Nach jüngeren Erkenntnissen kommt eine dritte Stressachse hinzu mit Ausschüttung von Neuropeptiden (z.B. Substanz P) und Entzündungsmediatoren wie den Zytokinen…  Im Verlauf der akuten Stressantwort verändert sich eine Vielzahl von Variablen verschiedener körperlicher Systeme wie: Herz-Kreislauf-Leistung, Tonus der glatten Muskulatur, Sekretion von Schweiß und Verdauungssäften, Aktivierung des Energiestoffwechsels, Immunbalance, Aktivierung von Vigilanz und Bewusstsein wie auch der Tonus des Halte-, Stütz- und Bewegungsapparates…“

Der Mensch also geht zurück auf seine tierische Stufe, die da lautet: Fressfeind oder Beute. Und hier zeigt sich auch die gesunde Seite des sogenannten „Eustress“: Kurzes Hochfahren, Stresslösung (durch Flucht oder Beutemachen), Rekreation und Hochgefühl. Anders beim sogenannten „Distress“: Hochfahren als Dauerzustand führt nicht zu Rekreation und Wohlgefühl, sondern zu Erschöpfung und Burn-Out, wenn nicht gar zum psychophysischen Totalkollaps.

In den fünfzehn Jahren meiner Coachingpraxis habe ich ausnahmslos die Erfahrung gemacht: Die Unfähigkeit mit Stress „umzugehen“ ist die Widerspiegelung eines inneren Zustandes und insbesondere seiner Einschränkungen. Hier geht es um erlernte (Fehl-)Haltungen, die die Stressanfälligkeit erst schaffen. Etwa die Bereitschaft, selber zurückzustehen und Anderen den Zutritt zu sich selber zu gestatten, was in der Verletzung der sogenannten „Ich-Grenzen“ endet. Damit wird die Frage virulent: Wie hoch schätze ich mich selbst und mein eigenes Wohlergehen ein gegenüber externen Anforderungen? Denn, wenn ich meiner Selbstvergeudung Grenzen setzen will, geht es nicht, ohne dass ich den Vampiren den Zutritt blockiere. Und genau an dieser Stelle setzt ein unbewusstes (!) Reflexverhalten ein, in dem der/die Betroffene sich vor der externen Inanspruchnahme beugt, „weil es eben immer schon so war.“

Viele Betroffene meinen, sie hätten nun nach einem bestimmten haltungsformenden Ereignis zu suchen und setzen sich damit bereits wieder unter Leistungsstress. Fakt allerdings ist, dass fast immer die Aufzuchtbedingungen des frühen seelischen Biotops eine solche Prägung veranlasst haben. – Ein Beispiel: Eine Klientin, die sich buchstäblich selbst verbrennt – im Job und auch im Privatleben, denn auch dort „leistet“ sie anstatt sich zu erholen – sucht meine Hilfe. Die Mittvierzigerin steht vor dem Kollaps, so dass ich sie erst einmal zum Arzt schicke. Der verschreibt ihr Tranquilizer, nun ja… In mehreren Sitzungen arbeiten wir daran, die Hintergründe ihrer Selbstschädigung aufzudecken. Sie scheint die Sitzungen zu genießen: die freundliche Atmosphäre, den Kaffee, das frische Gebäck aus der Bäckerei nebenan, das gemeinsame Lachen und das Gefühl angenommen zu sein.

Auch wenn sie sich um Selbstbeherrschung bemüht, reagiert sie emotional heftig auf die Erfahrung: Ich kann von mir erzählen und werde nicht abgelehnt, sondern akzeptiert. Ihre Mimik verrät immer wieder, dass ihr da etwas hochsteigt, auch wenn sie versucht, das kleinzureden. Meiner Frage dazu verweigert sie sich: „Man muss nicht alles psychologisieren.“ Dann, während einer der Sitzungen, fällt ihr Blick auf meine beiden Elektrogitarren und den Marshall neben der Couch: „Darf ich die mal anfassen?“ Ich nicke, und sie hebt die rote Gibson SG hoch mit einer auffallenden Zärtlichkeit. „Darf ich Sie was fragen? … Würden Sie die mal für mich anschalten?“

Nu wirds aber, denke ich mir verdattert. Rock-Coaching, man glaubts ja selber nicht. Nach kurzem Überlegen werfe ich den Marshall an und blase ein paar Licks durch die Gegend. Dann schalte ich ab, bevor das alte Blues-Schwein endgültig durchbricht und die Sitzung zum Teufel geht. Ich blicke auf eine glücklich leuchtende Klientin, wenngleich ich immer noch nicht verstehe, was passiert ist.

„Gitarre hätte ich sooo gerne gelernt!“ „Aber?“ „Ich durfte nicht. Meine Eltern wollten, dass ich Klavier lerne.“ Sie zögert. „Ich war ziemlich gut darin, bin ein paar Mal sogar damit aufgetreten. – – Sie waren sehr stolz auf mich.“ „Und Sie selbst?“ Lange Pause. „Ich habe es gehasst.“

Was als banale Begebenheit erscheint, gewinnt in den folgenden Sitzungen Dimensionen: Einem musischen Kind wird ein primärer Wunsch verwehrt, mit rationalisierenden Begründungen, die nicht verdecken können, dass die Eltern ihre eigenen Wünsche und Voreingenommenheiten an Stelle der Wünsche ihres Kindes setzen. Das Kind fügt sich und lernt nicht nur Klavier, sondern es beugt sich dem gesellschaftlichen Ehrgeiz der Eltern und erbringt Jahre lang Hochleistungen. Einschließlich mehrerer beklatschter Auftritte bei örtlichen Konzerten.

„Jedes Mal, wenn hinterher der Applaus kam, hatte ich das Gefühl, dass er gar nicht mir galt, sondern meinen Eltern. Weil die mich dazu gezwungen haben und sich jetzt von den ganzen Knallköpfen feiern ließen.“

Internalisiert wurde nicht nur der Lehrsatz: „Die Wünsche der Anderen sind wichtiger als meine, wenn ich mir ihre Zuwendung erhalten will.“ Sondern auch: „Ich bekomme besonders viel Zuwendung, wenn ich mich besonders anstrenge.“ Die Klientin ist sehr bewegt, als sie beginnt zu erfassen, welche Auswirkungen diese kindlichen Überlebenssätze auf ihre heutige Situation haben.

„Haben Sie Ihre Eltern sehr geliebt?“ „Das tu ich immer noch!“, antwortet sie leise. „Obwohl….“ Sie verstummt und ringt mit sich.  „Obwohl..?“ „Obwohl ich nie das Gefühl habe, dass sie mich wirklich sehen. – – – Ich bin immer nur die tolle, erfolgreiche Tochter, die SIE sich gewünscht haben.“ Sie legt die gefalteten Hände vors Gesicht und schweigt lange. „Irgendwie wars eigentlich ne unerfüllte Liebe. Ich hab nie das bekommen, was ich selber brauch. Ich war nur immer der Anlass, dass SIE stolz sein konnten.“

„Ich liebe meine Eltern so sehr, dass ich sie keinesfalls enttäuschen will.“, sage ich. „Denn sonst verliere ich auch noch diese Art von Zuneigung und habe gar keine mehr.“ Auch ein Coach hat ein Herz im Leib. Manchmal würde ich gerne Arschtritte verteilen. – Es wird zu oft vergessen: Der Hunger eines Kindes nach Liebe und Anerkennung ist nicht nur Luxusgut, sondern phylogenetisch verankerte Überlebensstrategie, um ihm die Aufzucht zu sichern. Ein Kind, das seelisch abgekoppelt ist, stirbt auch heute noch. – Zwar meist nicht mehr körperlich, aber immer noch seelisch.

Die Klientin jedenfalls organisiert sich vollständig neu. Sie führt eine Serie langer Gespräche mit ihren Eltern, die nach anfänglichem Blockieren beginnen, die Not ihrer Tochter zu verstehen. Die Aussöhnung vollzieht sich hochemotional. Danach sucht sie sich einen neuen Job. Ich warte noch eine ganze Zeit auf die Nachricht, dass sie sich zum Gitarrenunterricht angemeldet hat. Kommt aber nix.

Quelle: XING CFO-Gruppe
Bernd Späth ist Jurist, Coach, Schriftsteller und Theaterproduzent, s. auch www.in-deep-consulting.de