Zwei HV-Welten

Zwei HV-Welten

Last Updated on 2021-03-04
Börsen-Kurier Nr. 8 vom 25.02.2021 / Manfred Kainz

Dass für Investmententscheidungen ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance) eine immer größere Rolle spielen ist schön und gut. Von den 14 größten institutionellen Investoren, die in unseren ATX Prime Unternehmen investiert sind, haben bereits neun eine hohe oder sogar sehr hohe ESG-„Sensitivität“ in ihren Auswahlprozessen. Und auch die großen internationalen Stimmrechtsberater (Proxy Advisors) haben einen Fokus auf die ESG-Politiken der AGs in ihren Research-Guidelines eingebaut.

Auch unsere Börsenotierten werden also global verglichen und „gebenchmarkt“. Unter G wie (Corporate) Governance fallen auch die Kriterien Management & Board & Pay. Also standen auch die Vergütungspolitiken der ATX Unternehmen in der Hauptversammlungssaison 2020 im Blick der Proxy Advisors. Auch wenn die Abstimmung über das Thema Vergütung nicht bindend ist, so sollte man nach Meinung von Experten bei (Kernaktionäre herausgerechnet) mehr als 20 Prozent Neinstimmen im Unternehmen alarmiert sein. Bei sieben AGs aus dem ATX war das in der HV 2020 der Fall. Und so setzte es von den zwei weltgrößten Stimmrechtsberatungsunternehmen ISS (Institutional Shareholder Services) und Glass Lewis zahlreiche Nein-Empfehlungen.

Der Aufsichtsratsvorsitzende der Erste Group, Friedrich Rödler, gab unumwunden zu, wie überrascht er war, dass die Vergütungspolitik der Bank bei der HV nur 56 Prozent Zustimmung fand. Was die schlechteste Zustimmungsquote unter allen ATX-Werten war. Überrascht, weil man im Unternehmen sehr bemüht war zu erfüllen, was die internationalen Proxy Advisors erwarten. Und daher manches von deren Feedback für Rödler nicht nachvollziehbar war – wie die Kritik an angeblich „mangelnder Unabhängigkeit“ eines Aufsichtsratsmitgliedes.

Auch in anderen ATX-Unternehmen wurde so manche Kritik von Proxy Advisors nicht verstanden. Positiv formuliert hieß es: „Wir werden der angelsächsischen Sicht mehr Aufmerksamkeit widmen und natürlich auf Kritik reagieren.“ Aber es klingt die Frage durch, ob denn Proxy Advisors, die aus dem angelsächsischen Raum und damit aus einer anderen Rechtsordnung kommen, hiesige Gegebenheiten verstehen. Etwa das getrennte „Two-tier“-Vorstands-Aufsichtsrats-System im Gegensatz zum angelsächsischen „One-tier“-Board-System. Ein Grund mehr, warum es so wichtig ist, eine starke, interessierte, informierte und aktive heimische Privataktionärsbasis zu haben.

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