Alt, aber immer zeitgemäß

Alt, aber immer zeitgemäß

Last Updated on 2020-10-19
Dr. Christine Domforth

Gründerzeithäuser sind weit nachhaltiger als ein Blick auf die historischen Fassaden vermuten lässt. Ihre behutsame Instandhaltung und Sanierung schont Ressourcen und schafft wertvolle Impulse für den Arbeitsmarkt.

Sie sind zwischen 100 und 180 Jahren alt und prägen als kulturelles Erbe bis heute das Wiener Stadtbild: die Gründerzeithäuser. Entstanden sind sie zwischen 1840 und dem Ersten Weltkrieg, als die rasante Bevölkerungsentwicklung – die Einwohnerzahl stieg durch massiven Zuzug von knapp 500.000 auf fast zwei Millionen – in Wien enormen Bedarf an neuem Wohnraum auslöste.

Mehrere Merkmale sind charakteristisch für die Wiener Gründerzeithäuser: neben dem massiven Mauerwerk und den hohen Räumen (bis zu vier Meter) sowie Holzbalken als Geschoßdecken sind es vor allem die aufwändig gestalteten und üppig dekorierten Fassaden, Stuckelemente sowie Dekorleisten über den Fenstern („Augenbrauen“). Errichtet wurden die Miethäuser, die in der Regel vier bis sechs Stockwerke haben, im Stil des Historismus. Dabei griffen die Architekten auf Formen der Romanik, der Gotik, der Renaissance und des Barocks zurück, oft wurden auch antike Elemente integriert.

Infrastruktur vorhanden, kein Bodenverbrauch

Gründerzeithäuser sind zwar alt, sie passen aber perfekt in die heutige Zeit, in der das Thema Nachhaltigkeit immer mehr an Bedeutung gewinnt. In einem Haus, das bereits steht, sind im Gegensatz zu Neubauten auf der grünen Wiese Strom, Wasser, Kanal etc. vorhanden, es muss auch kein wertvoller Boden versiegelt werden. Einkaufsmöglichkeiten, Schulen, Parks sowie öffentlich Verkehrsmittel liegen meist in unmittelbarer Nähe, die Bewohner brauchen nicht unbedingt ein Auto. Während im Neubau sehr oft Verbundmaterialien, vor allem aber viele Kunststoffprodukte verwendet werden, die bei einem späteren Umbau oder Abbruch im Restmüll landen, wurden im 19. Jahrhundert bzw. vor dem Ersten Weltkrieg meist hochwertige Naturmaterialien verbaut, die saniert und wiederverwertet werden können. Viele ältere Häuser sind flexibel, die Wohnungen lassen sich bei Bedarf zusammenlegen oder aufteilen. Auch die Nutzung als Büro ist meist möglich.

Bauten aus der Gründerzeit bieten eine hohe Wohnqualität und gehören heute zu beliebtesten städtischen Immobilien. Waren früher vor allem in Objekten außerhalb des Gürtels Substandardwohnungen vorhanden, entsprechen heute die meisten Wohnungen der Kategorie A. Derzeit gibt es in Wien noch rund 14.000 Gründerzeithäuser. Sie und mit ihnen ein typisches Stück Wien auch für die kommenden Jahrzehnte zu erhalten, liegt stark im Trend. Immer mehr Menschen wenden sich von der Wegwerfgesellschaft ab und wollen Dinge länger nutzen. Ressourcen nicht zu verschwenden, sondern mit ihnen sparsam umzugehen, lautet die Devise. Reparieren war viele Jahr lang völlig out, heute ist es wieder in, das beweisen nicht zuletzt die boomenden Reparatur-Cafés.

Die schönen alten Häuser brauchen freilich regelmäßige Instandhaltung. Billige Husch-Pfusch-Aktionen und Sparen am falschen Platz sind unbedingt zu vermeiden. Hier wurde gerade in der Nachkriegszeit, als man bei Gründerzeithäusern oft einfach die schönen alten Stuckelemente brutal abschlug, viel falsch gemacht. Die wertvolle historische Bausubstanz sollte regelmäßig und behutsam gepflegt und wenn nötig nach ökologischen Kriterien saniert werden. Dabei entstehen natürlich erhebliche Kosten, aber der Aufwand rechnet sich, weil die schönen alten Häuser dann noch weitere 100 Jahre und mehr gute Dienste leisten können.

Viele Objekte müssen von Grund auf saniert und auf den heutigen Stand der Technik gebracht werden. Thermische Sanierung ist da nur ein, wenngleich besonders wichtiger Aspekt. Zwar ist ein altes Haus mit dicken Ziegelmauern energieeffizienter als ein unsaniertes Bauwerk aus den 60er-Jahren, den heutigen Anforderungen, den Klimazielen und den kommenden Bestimmungen in Sachen Energie-Effizienz entsprechen die Gründerzeithäuser jedoch nicht. Hier muss im Sinne der Nachhaltigkeit nachgerüstet werden.

Reparieren statt Wegwerfen

Denkmalgeschützte Objekte erfordern besondere Sorgfalt. So können Häuser mit reich verzierten Fassaden nicht einfach mit Dämmmaterial „eingepackt“ werden wie Häuser aus der Nachkriegszeit, hier ist gegebenenfalls eine Innendämmung erforderlich. Alte Holz- und Kastenfenster sollten nicht weggeworfen, sondern händisch repariert werden. Dachausbauten bieten oft die Möglichkeit, zusätzlichen Wohnraum zu schaffen und damit zusätzliche Mieteinnahmen zu lukrieren. Um den Wohnwert zu steigern, lassen sich bei manchen Objekten auf der Hofseite nachträglich Balkons anbringen, auch der Lifteinbau ist meist möglich. Erfahrene Architekten, Ziviltechniker bzw. Statiker finden in den meisten Fällen innovative Lösungen, um alte Häuser fit für die Zukunft zu machen.

Offen bleibt allerdings, wer diesen finanziellen Aufwand stemmen soll. Die Mieteinnahmen reichen dafür in der Regel bei weitem nicht aus. Sie sind für ältere Häuser aufgrund der Mietregulierung gedeckelt, auch nach einer umfassenden Sanierung gelten weiterhin die niedrigen Miet-Richtwerte. Dass dieser Richtwert gerade in Wien, wo österreichweit die meisten Gründerzeithäuser stehen, aufgrund einer problematischen politischen Entscheidung besonders niedrig ist, verschärft die Situation noch zusätzlich.

Sanieren ist beschäftigungsintensiv

Während im Neubau oft große Maschinen zum Einsatz kommen, geht es bei der Instandhaltung oder Sanierung von älteren Häusern eher kleinteilig zu, hier ist meist echt „Handarbeit“ gefragt. Für Renovierungen und Sanierungen braucht man qualifizierte Handwerker der verschiedenen Sparten (Maurer, Zimmerleute, Tischler, Elektriker, Fliesenleger, Installateure, Maler etc.), die sehr oft aus der Region kommen. Diese vielfältigen Beschäftigungsmöglichkeiten sind gerade in Zeiten einer tiefen Krise am Arbeitsmarkt von enormer Bedeutung.