Biochemikerin Renée Schroeder: “Keiner soll von dieser Krise profitieren”

Biochemikerin Renée Schroeder: “Keiner soll von dieser Krise profitieren”

Last Updated on 2020-05-07
Salzburger Nachrichten / Daniele Pabinger, 01.05.2020

Die vergangenen Wochen hat Renée Schroeder persönlich als “aufoktroyierte Notbremse” erlebt. Sie ist überzeugt, dass wir uns eine neue Wertigkeit suchen müssen.

In der Pension schlug die Biochemikerin Renée Schroeder ein neues Kapitel auf. Sie übersiedelte ihr Labor von Wien ins Salzburger Lammertal. Auf dem Leierhof in Abtenau auf 1100 Metern stellt die 66-Jährige nun als “Kräuterbäuerin” Produkte her. Wir haben sie nach ihrem Ausblick in die Zeit nach Corona gefragt. Das Gespräch fand vor ein paar Tagen telefonisch statt.

SN: Wo erwische ich Sie gerade? Wie geht es Ihnen?
Renée Schroeder: Ich sitze in meinem Schreibzimmer, habe den Blick auf den Dachsteingletscher und die Bischofsmütze, die Sonne scheint gerade rein. Es ist traumhaft schön. Für mich hat ja Corona etwas sehr Positives, weil ich bin immer gehetzt gewesen. Ich bin ständig zwischen Wien, Abtenau und Luxemburg gependelt, weil meine Mutter ein Pflegefall ist, ich in Wien Vorlesungen habe und sonst wo Vorträge halte. Mir hat’s eh getaugt, aber ich war schon richtig ausgelaugt. Aber jetzt habe ich diese Notbremse aufoktroyiert bekommen und bin seit mehr als sechs Wochen hier und bewege mich nicht vom Fleck. Das ist für mich sehr erholsam, ich will eigentlich gar nicht, dass dieser Zustand endet.

Hier kann ich mich um meine Kräuterküche kümmern, bereite die Felder für den Sommer vor und entwickle neue Kräuterprodukte.

Vor der Krise war ich vielleicht ein Drittel der Zeit in Abtenau, so zehn Tage pro Monat, den Rest unterwegs. Es war immer ein Hin und Her, weil doch sehr viel zu tun ist. Ich habe die Wohnung in Wien noch, aber sie steht auch nicht leer, wenn ich nicht dort bin. Verschwendung mag ich nicht! Ein gestrandeter Wissenschaftler und ein afghanischer Flüchtling wohnen bei mir.

SN: Sie engagieren sich aber auch jetzt in der Coronakrise für andere, wie ich gelesen habe, und spenden einen Teil Ihrer Pension.
Ich denk mir, ich hab immer Glück gehabt. Ich habe schon eine soziale Ader, ich glaube, das ist das Aufwachsen in Brasilien gewesen, da ist die Schere zwischen arm und reich so extrem. Als ich dann in den sechziger Jahren nach Österreich gekommen bin, hat mich das sehr fasziniert, diese soziale Ausgeglichenheit, dass es keine sehr Reichen und keine sehr Armen gab. Das hat sich mittlerweile geändert, aber damals war es so.

Alle, die jetzt in Pension sind, bekommen in der Coronakrise ihre Pension wie immer und können kein Geld ausgeben, weil wir ja zu Hause bleiben sollen. Also werden wir am Ende des Monats mehr Geld am Konto haben als sonst. Das ist nicht okay! Keiner soll von dieser Krise profitieren, während andere die “Arschkarte” gezogen haben. Meine Mutter hat immer gesagt, das Geld muss flutschen, in Bewegung bleiben. Es ist ja nicht weniger da durch die Krise, aber schlechter und ungerecht verteilt. Es soll keine Gewinner und keine Verlierer geben!

SN: Aber genau für diese Fälle gibt es den Härtefallfonds und andere Hilfsmaßnahmen.
Das mag schon sein, aber die Frage ist halt auch, wie lang es dauert, bis das Geld ankommt, und ob es reicht. Da braucht man eh nur im Bekannten- oder Freundeskreis zu schauen. Man sollte dem Stammlokal, dem Frisör, also einfach allen, die jetzt leer dastehen, das Geld spenden. Ich habe schon viele überzeugen können. Ich nenn’ es den Corona-Solidarbeitrag.

SN: Wie ordnen Sie diese Zeit jetzt ein?
Es ist eine interessante Zeit, finde ich, allein aus wissenschaftlicher Sicht. Ich weiß nicht, ob es so im Bewusstsein ist, aber die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa war 1900, also vor 120 Jahren, unter 40. Die Menschen sind ständig gestorben an irgendwelchen Infektionen oder Lebensmittelvergiftungen, es gab keine Antibiotika, keine Impfungen. Die meisten Jungen kennen zum Beispiel niemanden mehr mit Kinderlähmung, die wissen gar nicht, was Polio ist, natürlich, weil es eine Impfung gibt und die Krankheit kaum mehr existiert. Die Leute haben das alles vergessen, jetzt durch die Coronapandemie wachen sie halt wieder auf!

SN: Ihr Ausblick in die Zukunft? Welche Erfahrungen sollen bleiben?
Der Sternenhimmel vorige Nacht war hier unglaublich. Es hat mir die Rede verschlagen, wie sauber die Luft ist und wie gut man dann die Sterne sieht. Die Natur erholt sich. Ich glaube, dass wir eine neue Wertigkeit suchen werden müssen: Was ist uns wichtig. Immer dieses Schneller, Mehr, Schneller, Mehr, Nummer eins sein, “Make America great again”, “We have to be number one, the best in the world”. Wozu? Ich muss immer den Qualtinger zitieren, die Leute wissen nicht, wo’s hin wollen, aber sie wollen als erster dort sein. Das ist ja genau das Problem unserer Gesellschaft: Wachstum, Wachstum, Wachstum. Wozu? Es ist ja genug da, aber es ist nur schlecht verteilt. Das wissen eh alle. Das ist nicht meine Erfindung.

Ich hoffe schon, dass man sich in Zukunft überlegt, wie man sein Geld ausgibt, bei wem man einkauft, wen man unterstützt. Und vieles, was wir haben, ist nicht notwendig, das brauchen wir nicht. Wir machen es, weil es für die Wirtschaft gut ist. Die Frage ist: Ist die Wirtschaft für den Menschen da, oder der Mensch für die Wirtschaft?

Was ich unbedingt abschaffen würde, wären Rankings. Wir predigen Diversität, Innovation sei so wichtig. Aber wenn gerankt wird, muss das kleinste gemeinsame Element verglichen werden, da werden alle gleich geschaltet und viele Dinge gemessen, die total irrelevant sind.

Ein großes Problem ist, dass Menschen das glauben, was ihnen gefällt und was sie wollen, anstatt sich an Fakten zu orientieren. An Dinge zu glauben, die es nicht gibt, ist der Ursprung der meisten menschlichen Probleme und Konflikte. Wir sollten unbedingt der Realität ins Auge blicken und aufhören, uns selbst und andere zu belügen.

SN: Brauchen angestrebte Veränderungen einen Plan?
Nein, bevor wir große Pläne machen, müssen wir uns klar werden, was wir wollen, und wohin die Menschheit sich entwickeln soll. Mit dem Planen hab ich so meine Probleme. Man hat selten genug Information, um einen richtig guten Plan zu entwickeln. Wenn man sich was vornimmt und blindlings diesem Plan oder Ziel nachgeht, ist man blind für das, was rechts und links passiert. Das schwächt die Wahrnehmung für Dinge, die vielleicht viel wichtiger wären.

Ein Beispiel: Wenn wir gewusst hätten, als wir hier den Leierhof gekauft haben, was es alles für Hürden geben würde, wir hätten das nie gemacht, das wäre auch nicht planbar gewesen. Man muss die Dinge auch laufen lassen, nicht alles kontrollieren wollen. Ein Plan ist gut, aber es darf einen nicht blind machen für Alternativen. Es geht darum, dass man hellwach ist und die Gelegenheiten und Möglichkeiten erkennt, die sich bieten, und dann auch hinschaut. Denn das neue, kreative Denken kommt davon, dass wir viele Dinge im Kopf haben und dann Assoziationen bilden.

Die Menschen werden ständig berieselt, die kommen gar nicht dazu nachzudenken oder ihre Sinne einzuschalten. Sie geben ihrem Gehirn gar nicht mehr die Möglichkeit, einmal entspannt Dinge zu beobachten und zu schauen, um sich klar darüber zu werden, was ihnen wichtig ist.

SN: “Social Distancing” ist ja nach wie vor das Gebot der Stunde.
Ich habe fast das Gefühl, dass man sich gewöhnt an dieses Auf-Abstand-Gehen zu anderen, auch zu ihren Problemen. Das sehe ich nicht so. Social Distancing heißt zwar, dass ich physisch Abstand halte, aber nicht, dass ich die anderen nicht mehr wahrnehme. Es hat einen emphatischen Grund, dass ich Distanz halte, weil ich vermeiden will, dass sich jemand anderer möglicherweise ansteckt. Das Gleiche gilt für die Maske. Ich habe schon das Gefühl, dass es in dieser Coronakrise eine Solidaritätswelle gibt, sogar in dieser rechten Regierung. Und Mitgefühl ist das, was die Menschen zu Menschen macht.

Derzeit wird viel diskutiert, ob Kongresse in Zukunft digital stattfinden sollten. Die technischen Möglichkeiten haben wir. Aber eigentlich ist das persönliche Treffen von Kollegen das Wichtigste bei einem Kongress, weil man informelle Gespräche führt, Dinge sagt, die man in einem Vortrag nicht sagen würde, weil sie noch nicht durchgedacht wurden. Aber genau dieses freie Denken ist so wichtig, auch dass man jemand anderem einen Gedanken im persönlichen Gespräch anvertraut.

Der persönliche Kontakt ist extrem wichtig, im Beruf, in der Familie, unter Freunden.

SN: Wie sehen Sie als Biochemikerin die aktuelle Situation?
Alle Teilchen sind immer in Bewegung … Verlieren wir in der Coronakrise an Lebendigkeit? Ich sehe die Chemie oder Biologie, also das virale Partikel, das Coronavirus, ein RNA-Virus (mit Erbmaterial aus Ribonukleinsäure, Anmerkung), wie es sich verbreiten kann. Coronaviren kennt man schon so lang, aber auch die sind in Bewegung.

Wenn man genetische Studien von Viren oder Bakterien sieht, kann man ihren Weg nachverfolgen, sie wandern mit den Menschen mit. Das ist urspannend, wie wir uns alle aneinander anpassen. Unser Genom besteht aus vielen solchen Elementen mit viralem Ursprung, manchmal haben sie eine positive, aber öfter eine negative Wirkung, so funktioniert halt auch Evolution.

Aber man braucht keine Angst haben. Wenn ein Virus neu ist, ist es am Anfang oft virulent, aber dann passt es sich in der Regel auch an. Denn auch die Viren wollen überleben, und wenn sie ihren Wirt töten, gehen sie auch zugrunde.

SN: Aber genau die Angst wird ja von vielen geschürt.
Ja. Das ist Politik mit der Angst. Im 21. Jahrhundert braucht man keine Angst mehr zu haben, denn man kann die Dinge verstehen, wenn man sich ein bisschen anstrengt. Das Schlimme ist, wenn die Leut’ mit Geschichten daherkommen, um anderen Angst zu machen.

SN: Was braucht es künftig noch mehr?
Für mich ist wichtig die Solidarität. Man muss erkennen, dass man als Mensch Teil eines Netzwerks ist, es soll keiner profitieren auf Kosten der anderen. Das Leben hat von sich aus keinen Sinn. Vielmehr müssen wir unserem Leben einen Sinn geben. Das ist keine leichte Aufgabe. Wir haben oft keine Zeit und beschäftigen uns nicht damit. Und auch um die Welt zu retten, müssen wir schon überlegen, wo es hingehen soll. Das schnelle Wachstum, auch Perfektion, ist eine Sackgasse der Evolution, das sind alles Dinge, die sich am Ende selbst zerstören.

Es geht auch darum, die anderen zu überzeugen, was wichtig ist. Das ist eine globale Sache. Ich denke gerne global und empfinde mich als globaler Mensch.

Zur Person:
Renée Schroeder (66) war bis 2018 Professorin am (und Leiterin des) Department(s) für Biochemie und Zellbiologie der Max F. Perutz Laboratories, einem Gemeinschaftsunternehmen der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien.

Sie war 2002 Österreichs Wissenschaftlerin des Jahres, 2003 erhielt sie den Wittgensteinpreis und 2011 den Eduard Buchner Preis. Sie engagierte sich immer für die Förderung von Frauen in der Wissenschaft. Die Biochemikerin war 2003 als erst zweite Frau als Mitglied der Mathematisch/Naturwissenschaftlichen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) aufgenommen worden – 2012 trat sie aus, weil sie eigenen Worten nach die Förderung der “wissenschaftlichen Exzellenz” vermisste. 2017 und 2019 kandidierte sie auf der Liste Pilz/Jetzt für den Nationalrat.

Sie ist Mutter zweier Söhne. Gemeinsam mit ihnen hat sie vor ein paar Jahren den Leierhof in Abtenau gekauft. Dort stellt die “Kräuterbäuerin” aus Wildkräutern Salben, Seifen, Tinkturen her. Nähere Informationen auf der Homepage des Leierhofs https://www.leierhof.at/

2019 erschien ihre Biografie “Renée Schroeder. Alle Moleküle immer in Bewegung” von Ursel Nendzig im Salzburger Residenzverlag.

Quelle: https://www.sn.at/panorama/oesterreich/biochemikerin-renee-schroeder-keiner-soll-von-dieser-krise-profitieren-86854756 © Salzburger Nachrichten VerlagsgesmbH & Co KG 2020