Bürgerbeteiligung: Mit dem Losverfahren die Demokratie retten?

Bürgerbeteiligung: Mit dem Losverfahren die Demokratie retten?

Last Updated on 2023-06-18
Der folgende Beitrag von Dr. Christine Domforth ist eine Zusammenfassung eines in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 8. Juli 2019 erschienenen Artikels von Sebastian Scheffel.

Das Vertrauen in die Demokratie nimmt immer mehr ab – in Deutschland, aber auch in vielen anderen westlichen Ländern. Die Idee der Demokratie steht bei vielen Bürger:innen zwar nach wie vor hoch im Kurs, sie gilt für die Mehrheit noch immer als beste Staatsform. Aber an der praktischen Umsetzung gibt es zunehmend Kritik. Die Bürger:innen fühlen sich von der Politik nicht ausreichend gehört.

Oft hört man sogar die Auffassung, es werde gegen den Willen des Volkes regiert. Den Parteien gehe es nur um Machtpositionen, die Lösung der Probleme der Bürger:innen käme dabei zu kurz. Die Folgen sind neben dem Erstarken rechter und linker Randgruppen ein stetiger Mitglieder- und Wählerschwund der Volksparteien.

Kleine Verbesserungen werden zwar versucht, grundlegenden Veränderungen stehen aber nicht zur Diskussion. Es wird am Prinzip der repräsentativen Demokratie mit gewählten Abgeordneten als Vertreter:innen des Volkes festgehalten.

Vorbild: das antike Athen

Demokratie könnte aber auch völlig anders gelebt werden So wurden im antiken Athen – das allgemein als „Wiege“ der Demokratie gilt – wichtige Ämter durch das Losverfahren besetzt. Durch dieses, so die Argumentation, werde größtmögliche Chancengleichheit gewährleistet, weil theoretisch jede:r Bürger:in zum Zug kommen könne. Dass nicht nur Sklaven, sondern auch Frauen ausgeschlossen waren, steht auf einem anderen Blatt … Weiters sollte das Losverfahren Bestechungsversuche unterbinden. Deshalb wurden in Athen auch Richterposten durch das Los besetzt. Wer in Venedig neuer Doge werden sollte, wurde bis ins 18. Jahrhundert ebenfalls durch Zufallsauswahl bestimmt.

In Irland wurde jetzt etwas Ähnliches praktiziert: Die „Citizen Assembly“ war ein Gremium, dessen Mitglieder durch das Los ermittelt wurden und das in mehreren Runden über umstrittene Themen beriet und Lösungsvorschläge erarbeitete. Darüber gab es dann eine Volksabstimmung. Eines der Themen war die letztlich erfolgte Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Irland.

In Deutschland gab es diverse Versuche mit Losverfahren, an denen auch prominente Politiker:innen aller Parteien teilnahmen. Zu erwähnen sind hier etwa die Regionalkonferenz des Bürgerrates Demokratie, eine Initiative mit dem Namen „Mehr Demokratie“ sowie die Aktivitäten der Schöpflin-Stiftung. Sie alle wollten durch die Integration geloster Gremien politische Blockaden lösen und Lösungen abseits der Parteipolitik erarbeiten. Im Zentrum standen meist sogenannte Bürgerräte, deren Teilnehmer:innen ausgelost wurden. Die Teilnahme an der Auslosung war freiwillig, es beteiligten sich daher nur interessierte und engagierte Bürger:innen. Das Interesse der breiten Bevölkerung an der Politik kann auf diese Weise also nicht gesteigert und das grassierende Unbehagen mit der Demokratie, wie sie derzeit gelebt wird, nicht beseitigt werden.

Beraten oder auch entscheiden?

Viele Teilnehmer:innen an den Bürgerräten waren frustriert, weil sie nur beraten, aber nicht entscheiden durften. Das zu ändern wäre aber problematisch. Gewählte Abgeordnete müssen sich für ihr Handeln bei der nächsten Wahl verantworten. Für ausgeloste Bürgerräte fehlt ein solcher Kontrollmechanismus. Andererseits sind ausgeloste Bürger:innen in ihren Überlegungen freier und können innovative Lösungen vorschlagen, auf die Berufspolitiker:innen niemals kommen würden. Sinn machen könnten Losgremien nach Meinung von Fachleuten vor allem bei Zukunftsthemen wie dem Klimaschutz, auf kommunaler Ebene (z.B. Verkehrsplanung) und überall dort, wo es in der Politik Blockaden gibt. Zu achten ist darauf, dass die Teilnehmer:innen-Gruppen ausreichend groß sein müssen, damit auch Minderheiten angemessen vertreten sind.

Losverfahren kein Patentrezept

Falsch wäre es, Wahlen und Losverfahren gegeneinander auszuspielen, vielmehr sollte beides vernünftig kombiniert werden. Das wussten übrigens auch schon die alten Griechen. In Athen wurden all jene Ämter, für die besondere Kompetenzen wie etwa Kriegsführung oder Lesen und Schreiben erforderlich waren, nicht durch das Los, sondern durch ein Wahlverfahren besetzt.

Über das Wie gibt es verschiedene Meinungen, wichtig, ja sogar dringend notwendig ist aber in jedem Fall eine Weiterentwicklung der Demokratie. Sinn machen könnte auch eine Verknüpfung von Losverfahren und direkter Demokratie. Damit könnte der Unmut der Bürger:innen verringert, die Politikverdrossenheit abgebaut und die Demokratie letztlich gerettet werden.