Das Leiner-Haus, der “Schandfleck” an der Mariahilfer Straße

Das Leiner-Haus, der “Schandfleck” an der Mariahilfer Straße

Last Updated on 2021-05-20

Das Leiner-Haus in Wien wird abgerissen. Dass das dem Denkmalschutz egal ist und es auch keine städtebauliche Debatte über den Neubau gab, zeigt: Es braucht ein Umdenken im Umgang mit historischer Bausubstanz

Andreas Nierhaus

Kunsthistoriker Andreas Nierhaus kritisiert in seinem Gastkommentar den Umgang mit dem Leiner-Haus und dem Nachfolgeprojekt. Es brauche dringend eine “Reform hin zu einem substanziellen kommunalen Denkmalschutz”.

Wer sich bei einem Besuch des Möbelhauses Leiner auf der Wiener Mariahilfer Straße zwischen Schlafzimmer-Ausstellung und Küchengeräten unversehens im großen, über mehrere Stockwerke reichenden glasgedeckten Hof mit seinen reich ornamentierten Geländern wiederfand, mochte ahnen, dass sich hinter der unscheinbaren Fassade ein historischer Schauplatz der Wiener Konsumkultur verbarg. Das Warenhaus “Zur großen Fabrik – Stefan Esders”, 1894/95 nach einem Entwurf von Friedrich Schachner gebaut, besaß eine innovative Eisenkonstruktion der Firma Ignaz Gridl, die maximale Nutzungsflexibilität erlaubte und die Voraussetzung dafür bot, dass das Haus im Lauf der letzten 125 Jahre immer wieder an neue Bedürfnisse angepasst werden konnte. Nun weicht es seinem Nachfolger, geplant von OMA, dem Büro des Pritzker-Preisträgers Rem Koolhaas.

Den Abbruch dieses letzten erhaltenen Wiener Warenhauses der Gründerzeit nahm Wojciech Czaja im STANDARD zum Anlass, um sich über jene “Liebhaber des Leiner’schen Jugendstils” zu amüsieren, die den Verlust der Halle und des Stiegenhauses von 1912 beklagen. Der Autor stützt sich dabei auf ein vom Bauherrn in Auftrag gegebenes Gutachten, das erwartungsgemäß gegen den Erhalt des Gebäudes argumentiert. Und er zitiert den Wiener Landeskonservator Friedrich Dahm, der das Haus als “Schandfleck” bezeichnet – eine für einen Denkmalpfleger unangebrachte Ausdrucksweise – und damit für den Abbruch freigibt.

Ein “altmodischer” Bau?

Das Stiegenhaus, so Dahm weiter, sei “zwar ganz schön”, aber schon 1912 “altmodisch und retardierend” gewesen, weshalb es keinen Grund gebe, den Bau unter Denkmalschutz zu stellen. Diese krude Argumentation sollte zu denken geben, denn würde man alle “altmodischen” und “retardierenden” (wörtlich “die Entwicklung hemmenden”) Bauten aus dem Denkmalschutz entlassen, hätte das Bundesdenkmalamt nicht mehr viel zu tun; endlich könnte man etwa die Ringstraße komplett neu bebauen! Es ist fraglich, ob solche Aussagen dem Ansehen der staatlichen Denkmalpflege zuträglich sind.

Man darf von einer Zeitung wie dem STANDARD erwarten, dass prominente Bauprojekte dieser Dimension und Komplexität, wo ökonomische Interessen mit tatkräftiger politischer Unterstützung als Baukunst verkleidet daherkommen, durch sachlichen und kritisch prüfenden Journalismus begleitet werden.

In diesem Fall aber blieben nicht nur die politischen Hintergründe des Abbruchs und die Genese des Neubauprojektes unerwähnt, auch die ökologisch hochaktuelle Frage nach der “Entsorgung” voll funktionstüchtiger Bausubstanz wurde nicht gestellt.

“Mit der Architektur Wiens hat dieses Projekt jedenfalls nichts zu tun.”

Ein direkter Vergleich von Alt und Neu hätte vielleicht gezeigt, dass sich der vermeintliche “Schandfleck” trotz aller Veränderungen nach wie vor bestens, wenn auch sehr “leise”, in die bestehende Stadtstruktur, in den “Rhythmus” der Mariahilfer Straße einfügt. Das Neubauprojekt dagegen ist offenbar ohne jegliche Auseinandersetzung mit dem umgebenden Stadtraum entstanden. Es wird – ähnlich wie David Chipperfields Peek-&-Cloppenburg-Filiale in der Kärntner Straße – den Maßstab sprengen und in erster Linie lauthals “Kaufen!” rufen. Daran wird weder die mit Alibibäumen begrünte Dachterrasse noch die reich gegliederte Fassade etwas ändern: Mit ihren Rundbogenportalen und Arkaden würde sie besser nach München passen. Mit der Architektur Wiens hat dieses Projekt jedenfalls nichts zu tun, und daran kann auch die auf der Website von OMA zu lesende, inhaltsleere Behauptung, die Fassade sei inspiriert von der “gentle and sophisticated” Architektur der Wiener Secession, nichts ändern.

Denkmalschutz neu denken

Vor allem aber dokumentiert der Abbruch des Leiner-Hauses die gravierenden Defizite der Denkmalpflege in Wien, wo die Lücken zwischen staatlichem Denkmalschutz und kommunalem Schutzzonenmodell vonseiten der Investoren weidlich ausgenützt werden: Der Zustand des Gebäudes hat den Kriterien zur Unterschutzstellung durch das Bundesdenkmalamt nicht genügt, die Fassade wurde von der Magistratsabteilung 19 als nicht schutzwürdig anerkannt – also weg damit.

Das städtische Regelwerk für den Umgang mit historischer Bausubstanz in Wien, das vor allem das äußere Erscheinungsbild schützt, stammt aus einer Zeit, als die Stadt nicht wuchs, sondern schrumpfte. Ein halbes Jahrhundert später bedarf es dringend einer Reform hin zu einem substanziellen kommunalen Denkmalschutz, der sich nicht auf den Erhalt des Fassadendekors beschränkt, sondern das Gebäude als Ganzes, vom Keller über das Stiegenhaus bis zum Dach (!), in den Blick nimmt und auch in ökologischer Hinsicht bewertet. NGOs wie die Aktionsgruppe “Bauten in Not” treten seit langem dafür ein, Fragen der Nachhaltigkeit, Ökologie und Ressourcenschonung ganzheitlich mit Erhaltung, Weiterbauen, Baukultur und Denkmalschutz zu verknüpfen.

Für die ständig unter Legitimationsdruck stehende Denkmalpflege würde sich damit die Chance eröffnen, die kulturelle Relevanz und den Nutzen der historischen Bausubstanz im Kontext einer ökosozialen Politik der Zukunft verständlich zu machen. (Andreas Nierhaus, 20.5.2021)

Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000126776187/das-leiner-haus-der-schandfleck-an-der-mariahilfer-strasse