Die Bilanz: Kein Buch mit sieben Siegeln

Die Bilanz: Kein Buch mit sieben Siegeln

Last Updated on 2022-03-18
Wie lese ich (m)einen Geschäftsbericht? Das war Thema im Podcast der Directors Academy vom 04.03.2022. Der deutsche Finanzexperte Nikolaj Schmolcke gab praktische Tipps für AufsichtsrätInnen und BeirätInnen. Moderiert wurde der teilweise sehr amüsante Dialog von Rudolf X. Ruter, der als Governance- und Nachhaltigkeitsexperte bekannt und selbst mehrfacher Aufsichtsrat ist. 

Schmolcke, der Wirtschaftsprüfer ist und u.a. bei PWC, im Lufthansa-Konzern sowie bei Vapiano in leitenden Funktionen tätig war, betonte gleich zu Anfang, dass Bilanzlesen keine Hexerei sei und man dafür nicht BWL studiert haben müsse: „Sie müssen ja auch nicht Maschinenbau studieren, wenn Sie ein Auto fahren möchten. Binnen relativ kurzer Zeit könne man sich das nötige Grundwissen aneignen. Bilanzlesen sei übrigen wie Radfahren, man verlerne es nicht. Und es könne sogar Spaß machen, sind Schmolcke und Ruter überzeugt.

Es begann in Venedig …

Vereinfacht gesagt ist eine Bilanz eine Gegenüberstellung von Vermögen und Schulden eines Unternehmens. Die Differenz zwischen diesen beiden Positionen kann kleiner oder größer werden, das sieht man in der Gewinn- und Verlustrechnung (G&V). Bilanz und G&V gehören zusammen. Erfunden wurde das alles vor über 500 Jahren von venezianischen Kaufleuten, der Franziskanermönch Luca Pacioli trug wesentlich zur Verbreitung der doppelten Buchhaltung in ganz Europa bei. Laut Sprichwort besteht übrigens eine Parallele zwischen einer Bilanz und einer Wurst: bei beiden ist es besser, wenn man nicht weiß, wie sie zustande kommen.

Ruter verwies darauf, dass es nicht nur eine Bilanz gibt, sondern verschiedene wie etwa die Handels-, Steuer-, Einzel-, Ist-, Plan- und Konzernbilanz. Die Konzernbilanz ist aber die wichtigste. Der Geschäftsbericht selbst besteht aus vielen Einzelteilen, neben Bilanz, G&V und Cash-Flow-Rechnung enthält er weitere Berichte, darunter auch den Nachhaltigkeitsbericht, der künftig an Bedeutung gewinnen wird. Dazu kommen Quartals- und Halbjahresberichte sowie interne Berichte. All das sollte der Aufsichtsrat verstehen, selbständig und eigenverantwortlich analysieren und beurteilen können. Am Ende muss er den Konzernabschluss billigen.

Laut Schmolcke können zwar viele Aufsichtsräte Bilanzen lesen und verstehen, manche sind aber unsicher und scheuen sich deshalb, Fragen zu stellen. Zur Verunsicherung trägt auch bei, dass die Bilanzen größerer Konzerne 200 und mehr Seiten umfassen und man sich davon leicht erschlagen fühlt.

Geschäftsberichte sind wie eine Zeitung: auch dort wird man nicht alles von A bis Z alles lesen, sondern sich auf bestimmte Themen konzentrieren. Am Inhaltsverzeichnis kann man sich dabei leicht orientieren. In der Praxis wird meist zuerst der Vergütungsbericht gelesen, man will ja wissen, was der Vorstand verdient.

Aufs Datum achten!

Wer einen Jahresabschluss ansieht, sollte zunächst einen Blick aufs Datum werfen. Wie alt die Bilanz ist, also wie viele Tage bis zum Testat des Wirtschaftsprüfers vergangen sind, ist sehr aufschlussreich. Laut dem deutschen Corporate Governance Kodex gilt eine Frist von 90 Tagen, laut Gesetz sind vier Monate ausreichend. Dauerte es länger oder sogar viel länger als gewöhnlich, „dann brennt offensichtlich der Hut“, so Schmolcke. Neben Wirecard, wo die Fristen immer extrem ausgereizt wurden, und VW, wo nach dem Auffliegen des Dieselskandals die Testierung der Bilanz erst nach 113 Tagen statt wie üblich nach 50 Tagen erfolgte, nennt er als Beispiel die deutsche Tochter einer internationalen Firmengruppe. Ihr Jahresabschluss war üblicherweise nach 70 bis 90 Tagen unter Dach und Fach, 2020 dauerte es über 300 Tage, weil auf die – zum Überleben notwendige – Patronatserklärung der Muttergesellschaft gewartet werden musste. Wieviel Zeit bis zur testierten Bilanz verstrichen ist, ist also ein sehr wichtiger Indikator, vor allem auch im Mehrjahresvergleich.

Nach dem Datum der Bilanz sollte man sich das Testat ansehen. Die Testate der Wirtschaftsprüfer sind in den vergangenen Jahren deutlich aussagekräftiger geworden, meinte der Experte. Wenn sich an den Prüfungsschwerpunkten etwas ändert oder es zwar ein uneingeschränktes Testat gibt, dieses aber Hinweise – beispielsweise auf Risiken bei der Finanzierungen – oder bestimmte Hervorhebungen enthält, sollte man immer nachfragen.

Wenn der Vorstand Märchen erzählt

Bei börsenotierten Unternehmen muss der Vorstand im Geschäftsbericht in einem Satz allgemeinverständlich darlegen, ob die Entwicklung im vergangenen Jahr günstig oder ungünstig war, genannt wird das meist zusammenfassende Gesamtaussage. „Diesen Satz kann man in einer Sekunde lesen,“ so Schmolcke. Er ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, nicht umsonst sprechen Wirtschaftsprüfer hier vom „Märchenteil“. Die Gesamtaussage des Vorstands wird nämlich nicht geprüft und nicht testiert.

Umsatz und Gewinn bzw. Verlust sind weitere Punkte jedes Geschäftsberichtes, deren Entwicklung man sich  – eventuell nicht nur im Jahresvergleich, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg – näher ansehen sollte. Wenn ein Unternehmen zwar einen höheren Gewinn als im Vorjahr ausweist, gleichzeitig aber die sonstigen Rückstellungen kräftig gesunken sind, ist das als Instrument der Bilanzpolitik zwar zulässig, man sollte aber näher hinschauen. Eine wichtige Kennzahl ist weiters der Cash-Flow, die Zwischensumme der Kapitalflussrechnung. Er kann nicht beeinflusst werden, etwa durch Bildung von Rückstellungen, ist aber sehr volatil. Man sollte immer die Korrelation zwischen Gewinn und Cash-Flow ansehen.

Bei Wirecard ist nicht nur die Bilanz erst auf den letzten Drücker testiert worden, die Zahlungsmittelbestände waren seit 2014 immer höher als der Jahresumsatz gewesen, Tendenz steigend, erläuterte Schmolcke. Einen Prüfungsausschuss hat es in diesem Pleiteunternehmen jahrelang nicht gegeben. Als man dann doch einen einrichtete, wurde er vom Aufsichtsrats-Vorsitzenden geleitet – eigentlich ein No-Go. Begründet wurde das nicht, was ebenfalls einen Verstoß gegen den Corporate Governance Kodex (CGK) darstellte. Generell empfiehlt Schmolcke jedem Aufsichtsrat oder Beirat, das nur wenige Seiten umfassende Regelwerk CGK zu studieren. Wenn das Unternehmen eine bestimmte Regel nicht einhält, sollte man sich ansehen, ob die Begründung dafür plausibel ist.

Bei der Bilanzerstellung hat das Unternehmen gewisse Ermessensspielräume, es gibt Wahlrechte und Raum für Bilanzkosmetik. Als Beispiel für Bilanzpolitik nannte Schmolcke den VW-Konzern. Der agierte wie vom Gesetzgeber gewollt konservativ und bildete für den Dieselskandal extrem hohe Rückstellungen. Sie waren teilweise zu hoch und konnten später wieder aufgelöst werden.

Ein Indiz für Bilanzkosmetik wäre es beispielsweise, wenn vorgesehene Wahlrechte erstmals ausgenutzt werden und dadurch ein Gewinn zustande kommt. Dann will das Unternehmen wohl eine schwierige Entwicklung übertünchen.

Bilanzbetrug: Wie schützt sich der Aufsichtsrat?

Wie kann man sich als Aufsichtsrat oder Beirat vor Bilanzbetrug schützen, fragte Ruter. Man sollte sich die relevanten Zahlen ansehen und zwar im Zeitverlauf, also über fünf Jahre oder mehr. Dabei lassen sich Muster erkennen. Werden plötzlich Dinge aktiviert, Vermögenswerte „aufgeblasen“? Gibt es eine vernünftige Erklärung oder nur „Nebelgranaten“?

Der Wirtschaftsprüfer, der die Bilanz testiert, muss gegenüber dem Vorstand eine kritische Haltung einnehmen. „Deshalb ist er der beste Freund des Aufsichtsrates“, so Schmolcke. Dies auch deshalb, weil sich der Wirtschaftsprüfer – oft auch als „Belegspießer“ bezeichnet – durch alle Positionen des Rechenwerkes durcharbeitet, wenngleich teilweise nur stichprobenartig. Wichtig sind deshalb regelmäßige Treffen zwischen dem Wirtschaftsprüfer und dem Vorsitzenden des Prüfungsausausschusses, an denen der Vorstand nicht teilnehmen darf. „Ein geprüfter Abschluss ist mehr wert als ein ungeprüfter,“ betonte Schmolcke. Als Aufsichtsrat müsse man sich aber bewusst sein, dass die Beurteilung des Geschäftsmodells und die Frage, welche Richtung das Unternehmen nimmt bzw. ob es auf der richtigen Spur ist, nicht Sache des Wirtschaftsprüfers ist.

In den DAX-Unternehmen entsprechen die Prüferhonorare im Schnitt etwa 0,4 Prozent des Personalaufwands. Steigt dieser Anteil massiv, dann gibt es offenbar Probleme, der Prüfer hatte Schwierigkeiten, die Zahlen irgendwie „zusammenzufummeln“. So betrugen die Prüferhonorare bei Wirecard am Schluss mehr als ein Prozent des Personalaufwands.

Alles dokumentieren und archivieren

Noch ein praktischer Rat der Experten Schmolcke und Ruter: Jeder Aufsichtsrat sollte den Jahresabschluss lesen und dann ausdrucken, mit „Eselsohren“ versehen und seine Notizen hineinschreiben. Alle Fragen und die erhaltenen Antworten sollten notiert werden. Dann kann man später nachweisen, dass man sich mit dem Zahlenwerk kritisch auseinandergesetzt hat. Natürlich müssen diese Notizen aufgehoben werden.

Was tut ein junger Digitalexperte, der wegen dieser Kompetenz neu in einen Aufsichtsrat berufen wird, aber keine Ahnung von Bilanzen hat, fragte Ruter. Schmolcke hat bereits viele derartige Fälle betreut und versichert, dass man mit etwas gutem Willen in einem halben Tag genug lernen kann, um einen Jahresabschluss zu verstehen. Und danach sollte man viel üben, also diverse Bilanzen lesen und sich vor allem auch die Jahresabschlüsse von konkurrierenden Unternehmen ansehen.

HGB kontra IFRS

Viele größere international tätige Unternehmen bilanzieren heute nach IFRS. Hier läuft vieles anders als bei der traditionellen Handelsbilanz. Die Handelsbilanz ist grundsätzlich auf Gläubigerschutz ausgelegt, man bilanziert konservativ. Bei der angelsächsischen Rechnungslegung, also z.B. IFRS, steht der Investorenschutz im Vordergrund. Es wird tendenziell optimistischer bilanziert und es gibt – anders als nach HGB – keine Wahlrechte. Bei IFRS werden die Regeln auch laufend geändert, welche wann angewendet werden oder in der Pipeline sind, sollte man sich ansehen.

Wann kommt Wirecard 2.0 lautete die Schlussfrage von Ruter. Schmolcke betonte, dass Derartiges immer wieder mal passieren werde. Das zeigt auch ein Rückblick auf die diversen Skandale der Vergangenheit, bei denen keiner etwas gemerkt hat und Bilanzen anstandslos abgesegnet wurden. Glückicherweise sind derartige Fälle nicht allzu häufig.

Quelle: Podcast für den Aufsichtsrat #5 mit Nikolaj Schmolcke – Directors Academy

Websites: Rudolf X. Ruter;          Kontakt — Bilanz verstehen