Ein Wertekanon für die ganze Welt

Ein Wertekanon für die ganze Welt

Last Updated on 2023-01-18
Die Idee vom Weltethos geht zurück auf den katholischen Theologen Hans Küng, der die Weltreligionen nach Gemeinsamkeiten untersuchte und diese in der Ethik fand. Er formulierte die gemeinsamen ethischen Standards in der „Erklärung zum Weltethos“, die vom Parlament der Weltreligionen 1993 in Chicago feierlich verabschiedet wurde.

Die Präsidentin des Vereins Initiative Weltethos, Prof.in Mag.a Edith Riether, erläutert im INARA-Gespräch, wie die Prinzipien der Erklärung zum Weltethos in der Praxis zum Wohle der Menschheit umgesetzt werden sollten.

INARA: Bitte legen Sie uns zunächst kurz dar, worum es beim Weltethos geht.
Riether: Beim Weltethos geht es um einen Grundkonsens in den wichtigsten ethischen Werten, der sich aus religiösen, kulturellen und zum Teil auch philosophischen Traditionen der Menschheitsgeschichte ableiten lässt. Vereinfacht gesagt, wird das Gemeinsame vor das Trennende gestellt, um ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen.

INARA: Woher stammt diese Idee?
Riether: Der Ausdruck „Weltethos“ geht auf den katholischen Theologen Prof. Hans Küng zurück, der 1990 sein Buch „Projekt Weltethos“ veröffentlichte. Küng hatte wegen seiner Kritik am Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes vom Vatikan ein Lehrverbot bekommen und wandte sich danach verstärkt dem Studium der Weltreligionen zu, um herauszufinden, was diese gemeinsam haben. Er selbst nannte das eine „Spurensuche“. Im gleichnamigen Werk zeigt Küng auf, dass die für das Zusammenleben der Menschen grundlegenden Forderungen – nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen und nicht Unzucht treiben – in sämtlichen Weltreligionen sowie auch in den Stammesreligionen der Naturvölker enthalten sind.

INARA: Warum ist es so wichtig, die – vermeintlichen – Gräben zwischen den Religionen zuzuschütten?
Riether: Schon Küng war davon überzeugt, dass es ohne Frieden zwischen den Religionen auch keinen Frieden zwischen den Nationen geben könne. Das Trennende zwischen den Religionen zu betonen oder gar machtpolitisch zu missbrauchen, ist verantwortungslos, wird aber bis heute vielfach praktiziert. Das geht von Zwangsbekehrungen bis zu religiös motivierten Terroranschlägen, die wir ja leider immer wieder erleben.

INARA: Manche Menschen fühlen sich keiner Religion zugehörig, sind Agnostiker und Atheisten. Was ist mit diesen?
Riether: Auch diese Menschen haben ein Ethos, denn Ethik geht uns alle an. Sie betrifft das Humanum und Menschen sind wir alle. So enthält beispielsweise die Erklärung zum Weltethos das Humanitätsprinzip – Jeder Mensch soll menschlich behandelt werden – und die Goldene Regel – Was Du nicht willst, dass man Dir tu’, das füg auch keinem anderen zu -, die keine religiöse Formel und in nahezu allen Religionen sowie bei etlichen Philosoph*innen und humanistischen Denker*innen zu finden ist.

INARA: Wie ging es nach der Veröffentlichung des Buches von Küng weiter?
Riether: Küng fasste seine Erkenntnisse in einer „Erklärung zum Weltethos“ zusammen, die im Jahr 1993 in Chicago anlässlich der Hundertjahrfeier des Parlaments der Weltreligionen in Anwesenheit von mehr als 6.000 Menschen aller Religionen feierlich verkündet wurde, nachdem sie vorher der Council des Parlaments, bestehend aus 200 religiösen Führern, unterzeichnet hatte.

INARA: Gibt es auch einen organisatorischen Rahmen für das Projekt Weltethos?
Riether: Seit 1995 gibt es eine Stiftung Weltethos, die ihren Sitz in Tübingen hat. Erster Präsident war Küng selbst, er ist 2021 93-jährig verstorben. Die Stiftung kümmert sich um interkulturelle und interreligiöse Forschung und Bildung. Weitere Stiftungen gibt es in der Schweiz sowie in einigen Ländern Lateinamerika und in China. In Österreich habe ich vor einigen Jahren die Initiative Weltethos Österreich gegründet.

INARA: Woher kommt Ihr Interesse für dieses Thema?
Riether: Ich habe insgesamt 42 Jahre in der Parlamentsdirektion in Wien als Fachübersetzerin und Dolmetscherin der jeweiligen Nationalratspräsidenten in mehreren Sprachen gearbeitet. Im Zweitstudium habe ich Katholische Theologie mit Schwerpunkt Ethikunterricht absolviert und bin so auf das Projekt Weltethos gestoßen. Seit Jahren setze ich mich intensiv dafür ein. Ein ebenso großes Anliegen war mir die Etablierung des Schulfachs Ethik in unseren Lehrplänen. Damit könnte man der wachsenden Spaltung in der Gesellschaft, die wir alle spüren, langfristig entgegenwirken.

INARA: Die grundlegenden Forderungen – nicht töten, nicht stehlen usw. – sind ja universell und werden immer ihre Gültigkeit haben. Inzwischen steht die Menschheit aber vor zusätzlichen Herausforderungen, Stichwort Klimawandel. Wie geht man damit um?
Riether: Im Jahr 2020 wurde die Erklärung zum Weltethos nach längeren Beratungen um die „Ökologische Verantwortung“ ergänzt. Es handelt sich um die sogenannte 5. Weisung oder Richtlinie, in der die Gier als Ursache der Umweltverschmutzung und des rasanten Klimawandels genannt wird. Daher die Aufforderung: Denke an das Wohl aller.

INARA: Inwieweit kann das Projekt Weltethos eine Antwort auf die zahlreichen Herausforderungen unserer Zeit wie Kriege, Klimawandel, Hunger usw. sein?
Riether: Ich bin davon überzeugt, dass wir die Idee eines Weltethos heute mehr denn je für eine gute Welt brauchen: Frieden statt Krieg, Achtung vor der Erde und Sorge für ihre Lebewesen und Ökosysteme, eine gerechte Wirtschaftsordnung, Wahrhaftigkeit auf allen Ebenen sowie gegenseitigen Respekt.

INARA: Wer sollte sich an diesen Prinzipien orientieren?
Riether: Jede und jeder von uns!  Die Politiker*innen sollten sich darauf besinnen, das Einende vor das Trennende zu stellen, jeden Menschen menschlich zu behandeln und dem Gemeinwohl zu dienen. Die Prinzipien der Erklärung zum Weltethos gelten aber für Wirtschaftstreibende genauso wie für Journalist*innen, Künstler*innen, Mediziner*innen usw. Gerade die Zeit um Weihnachten und den Jahreswechsel wäre geeignet, sich mit der Weltethos-Idee zu beschäftigen, über notwendige Veränderungen nachzudenken und mit der praktischen Umsetzung im Alltag zu beginnen bzw. fortzufahren.

INARA: Profitiert man auch persönlich davon, wenn man sich mit dem Thema Weltethos beschäftigt?
Riether: Davon bin ich zutiefst überzeugt. Es ist eine gute Richtschnur für das eigene Leben und kann, wenn man sich intensiv damit befasst, dazu beitragen, eine gewisse Lebensweisheit zu erlangen.

Initiative Weltethos Österreich – Ethische Bewusstseinsbildung

 

Autorin: Brigitta Schwarzer