„Immer mehr verstehen sich als Flexitarier”

„Immer mehr verstehen sich als Flexitarier”

Last Updated on 2022-01-13
wienerzeitung.at, 05.12.2021

Ernährungsexpertin Hanni Rützler über neue Trends, eine pflanzenbasierte Zukunft – und warum sie bei Süßigkeiten-Werbung lachen muss.

Wiener Zeitung: Es ist noch ziemlich früh am Morgen – was frühstückt eigentlich eine Ernährungsexpertin?

Hanni Rützler (lacht): Ich sehe mich eher als Expertin für den Wandel der Esskultur. Jetzt im Winter esse ich warmes Porridge mit Naturjoghurt und Früchten. Im Sommer eher etwas Kaltes. Aber immer Schwarztee mit Milch, ein Mitbringsel aus einem längeren Aufenthalt in Großbritannien. Damit ist der britische Einfluss auf meine Ernährung aber auch schon zu Ende.

Von Natur aus sind wir eigentlich unkomplizierte Allesfresser. Trotzdem machen sich viele Menschen ziemlich viele Gedanken über das Essen. Woran liegt das?

Wir leben seit zwei Generationen im Lebensmittelüberfluss und lernen erst langsam, zu wählen! Das ist auch hoch an der Zeit. Wir sind befreit von Mangel und sozialen Normen, haben die Freiheit zu wählen – und nehmen uns die auch. Das ist ein historisches Geschenk, aber es bedeutet auch viel Arbeit. Essen ist heute immer auch ein Ausdruck des persönlichen Lebensstils. Vor allem bei jüngeren Menschen, die sich eher trauen, Neues auszuprobieren, zum Beispiel eine vegane Ernährung. Ältere machen sich meist weniger Gedanken und sind eher traditionell.

Die Kriegsgeneration hat noch Mangel erlebt, die Jungen sind wählerisch?

Die Erfahrungen der Kriegszeit werden oft unbewusst weitergegeben, im ländlichen Raum ist das noch viel stärker zu spüren als im urbanen. Für viele ist es immer noch ein Affront, wenn man von heute auf morgen sagt, ich esse kein Fleisch mehr. Oder ich trinke keine Milch mehr. Das ist in Großstädten nicht mehr so ein großes Thema wie im bäuerlichen Milieu. Es gibt in der Gesellschaft einfach unterschiedliche Tempi. Aber es geht – zumindest für viele – nicht mehr ums Überleben, sondern um ein gutes Leben. Wir wählen individuell und berücksichtigen mehr und mehr auch ethische und ökologische Aspekte.

Wir wussten noch nie so viel über die Rolle der Ernährung wie heute – Stichwort Mikro- biom-Forschung. Trotzdem essen die meisten von uns ziemlich ungesund: zu viel Zucker und zu viel verarbeitete Lebensmittel mit schädlichen Inhaltsstoffen. Was läuft da schief?

Wir lernen zu mögen, was wir häufig essen. Und während Lock-downs versuchen halt manche, sich und die Familie mit Süßigkeiten zu verwöhnen und glücklich zu machen. Essen kann ja auch zur Gefühls-Modulierung eingesetzt werden. Außerdem werden Feste in unserem Kulturraum meist mit Süßem gefeiert. Ich muss oft schmunzeln und staunen, wie in der Werbung immer noch Liebe mit Süßem gleichgesetzt wird. Diese „Genussinseln“, die da gezeigt werden, das funktioniert scheinbar noch immer.

Gleichzeitig ist gesunde Ernährung ein großes Thema in den Köpfen, auch wenn sie im Alltag oft gar nicht so leicht umzusetzen ist. Corona hat das noch verstärkt, wenn auch nicht bei allen. Viele ernähren sich gar nicht gesund, nehmen das aber vielleicht auch gar nicht wahr. Für andere ist Gesundheit eher ein Luxusthema und es geht primär darum, die Familie bis zum Ende des Monats satt zu bekommen und gut durch die Krise zu bringen. Wir haben ein sehr starkes soziales Gefälle.

Welche Rolle spielen die größten Lebensmittel-Konzerne? Ihr Einfluss durch Lobbyismus und Marketing ist groß.

Mit dem Übergang vom Industrie- ins Wissenszeitalter nimmt ihr Einfluss eher ab. Lebensmittelkonzerne tun sich immer schwerer, mit neuen Produkten ein Massenpublikum zu erreichen. Der Geschmack der Gesellschaft differenziert sich aus. Der Mainstream wird dünner. Davon profitieren auch Start-ups und andere junge Unternehmen, die mit neuen Nischenprodukten den Markt erobern. Parallelen dazu finden wir auch in der Politik oder in der Mode. Beim Essen hat der Wandel um die Jahrtausendwende einen großen Sprung gemacht. Das war übrigens die Zeit, in der das Wiener Schnitzel zum ersten Mal nicht mehr das Lieblingsgericht der Österreicher war. Bei den unter Vierzigjährigen war es nicht einmal mehr eine Fleischspeise, sondern Pizza und Spaghetti. Das war ein Erdrutsch.

Werden die Corona-Trends überleben oder war das kollektive Sauerteigbrot-Backen nur eine Phase?

Wir haben weltweit viel mehr Zeit in der Küche verbracht. Und Sauerteigbrot ging wirklich durch die Decke! Ich glaube schon, dass uns das wieder näher an unsere Lebensmittel geführt hat und unsere Wertschätzung gestiegen ist. Eine aktuelle Studie zeigt, dass es für die Gastronomen nicht nur schwierig ist, Personal zu finden, sondern auch, den gestiegenen Qualitätsansprüche der Gäste zu genügen. Meine Analysen bestätigen das. Die Trends „bio” und „regional” gab es schon vorher. Aber die haben jetzt richtig angezogen! Natürlich wird das wieder etwas abflachen, wenn sich das Budget der Menschen wieder mehr in Richtung Reisen entwickelt. Aber wer selbst gemachtes Essen oder die neue Esskultur in der Familie mehr zu schätzen gelernt hat, wird das auch weiterhin aufrechterhalten wollen.

Was hat die Krise verändert?

Corona hat unsere Sinne geschärft, vielen ist heute klarer, was wichtig ist und was nicht. In der Krise hat Essen sozusagen sein innovatives Gesicht gezeigt. Es hat uns Halt, Freude und Struktur im Alltag gegeben. In den Lock-downs haben wir uns wieder um die Mahlzeiten organisiert. Davor hat es einen Trend hin zur „Snackifizierung” gegeben: ein Auflösen der Mahlzeiten und immer spontanere Entscheidungen, was ich heute esse, wann, wo und mit wem.

Das hat sich geändert. Es wird wieder regelmäßiger gegessen. Auch das Einkaufen hat sich verändert. Die Menschen kaufen weniger impulsiv und nicht so häufig ein, dafür bewusster. Sie halten sich mehr an ihre Einkaufsliste und achten mehr auf Qualität. Das spiegelt sich unter anderem im Wachsen des Bio-Segments wider. „Kathartisch” greift sicher zu weit, aber bei vielen hat die Corona-Krise die Wahrnehmung auch für eine Reihe anderer Probleme – Stichwort Klimakrise – geschärft. Das Essen spielt dabei eine ganz zentrale Rolle. Daran kann man sehr schön die aktuellen Suchbewegungen nach besseren Lösungen nachzeichnen.

Stichwort Zoonose”: Kann man sagen, dass Corona den Fleischkonsum beeinflusst hat?

Ich hatte kurz befürchtet, dass es in der Pandemie wieder einen Rückfall in Richtung Old Style Cooking geben könnte, sprich öfter Fleisch. Aber das ist nicht passiert. Aktuelle Studien weisen darauf hin, dass sich immer mehr Menschen als Flexitarier verstehen. Das ist mittlerweile schon Mainstream. Das heißt nicht unbedingt, dass sie möglichst wenig Fleisch, sondern nur, dass sie weniger Fleisch essen wollen. Und da kommt es natürlich auf die Ausgangsposition an. Wenn jemand vorher täglich Fleisch gegessen hat, sind ein bis zwei fleischfreie Tage schon ein Fortschritt. Den Zenit haben wir definitiv überschritten und es wird tatsächlich weniger Fleisch gegessen. Spannend finde ich, dass Biofleisch viel mehr nachgefragt wird, die Produzenten kommen aktuell gar nicht nach. Der Bio-Konsum ist für mich immer ein Gradmesser für Stimmungen. Während der Wirtschaftskrisen in den Jahren 2002/2003 und 2008/2009 ist er deutlich eingebrochen, während der aktuellen Gesundheitskrise ist er deutlich gestiegen.

„Wenn heute emotionaler und moralischer über das Essen gesprochen wird, ist das immer ein Zeichen, dass auch abseits vom Essen neu verhandelt wird, was falsch und was richtig ist.”

Was halten Sie vom Hype um Fleischersatz-Produkte? So richtig natürlich sind die meisten ja nicht. Es wird von großen Firmen massiv investiert.

International werden hier Milliarden investiert. Aber ich halte viele Fleischersatzprodukte, die derzeit am Markt sind, für Übergangsprodukte. Diese Einschätzung irritiert viele. Dass fleischfreie Lebensmittel nach Fleisch schmecken sollen, ist ja nur unserem tradierten Geschmack geschuldet. Ich denke in größeren Zeiträumen. Wenn wir uns in Zukunft fleischärmer ernähren wollen, dann ist es doch sinnvoller, das kulinarische Potential pflanzlicher Lebensmittel zu heben, als aus Pflanzen Fake-Meat zu machen. Im Moment sollten wir jede Alternative willkommen heißen. Das ist Learning-by-Doing und geht ziemlich schnell.

Uns fehlt weitgehend die Tradition, mit pflanzlichen Ausgangsprodukten kulinarisch überzeugende Gerichte zu kochen. Dazu kommt, dass Fleisch lange das esskulturelle Leitprodukt war, das es bei einem großen Teil der Bevölkerung nur an Festtagen gab. Erst in den fünfziger und sechziger Jahren, im Zuge der Industrialisierung der Nahrungsmittel und der Massentierhaltung wurde Fleisch zur Alltagsspeise. Das waren auch Errungenschaften, die Hunger und Mangel beseitigt haben. Aber der Fokus auf Effizienz hat einen hohen Preis. Einerseits ist diese Form der Landwirtschaft sehr produktiv, andererseits sehr brüchig. Sie setzt den Wert natürlicher Ressourcen und sozialer Bindungen herab.

Was meinen Sie mit brüchig?

Unsere Landwirtschaft stößt an die Grenzen eines funktionierenden Ökosystems. Es gibt kaum Lösungsansätze für die großen Herausforderungen der Zukunft, wie den Klimawandel. Wir sind abhängig vom Import von Futtermitteln und dem Einsatz von Spritzmitteln und produzieren dabei überwiegend Standardware. Da sind wir schnell bei der Preisdiskussion. Was sind uns Nahrungsmittel wert? Dabei vergessen wir meist, dass die Landwirtschaft hochgradig subventionsabhängig ist und dass mit den Subventionen auch ganz stark Schwerpunkte gesetzt werden. Das hat eine lange Geschichte und bewegt sich zu langsam in Richtung Nachhaltigkeit. Wir brauchen aber dringend Konzepte, wie wir auf vermehrten Starkregen und auf immer längere Dürrephasen in Zukunft reagieren können. Auch durch Umstellung auf andere Arten und Sorten – und insgesamt durch mehr Vielfalt.

Aktuell beschreibe ich einen Food-Trend, den ich „Local Exotics” nenne, der eine, wenn auch nur kleine Antwort darauf gibt. Viele denken, sich regional zu ernähren, sei automatisch nachhaltiger. Das stimmt leider nicht immer. Andererseits wird es schnell langweilig, wenn man versucht, sich nur auf regionale Produkte zu beschränken. Dann haben wir oft nur noch Fleisch, Zwiebeln, Erdäpfel und Getreide. Das muss aber nicht sein. Wenn man sich heute umschaut, sieht man, dass es viele innovative, junge Produzenten gibt, die für mehr Vielfalt auch bei regional produzierten Lebensmitteln sorgen. Barsche, Lachse oder Garnelen werden bei uns mit Aquaponik (ein Verfahren, das „Aquakultur”, die Aufzucht von Wassertieren in Becken, mit „Hydroponik”, der Kultivierung von Nutzpflanzen im Wasser, koppelt, Anm.) gezüchtet. Es gibt mittlerweile Reis-, Oliven- und Artischockenanbau in Österreich. Und beim Thema Arten- und Sortenvielfalt ist noch viel Luft nach oben. Ich kann da nur den Alchemistenpark in Kirchberg am Wagram empfehlen, wo Sigi Tatschl (Gärtner, Sozialarbeiter und Psychotherapeut, Anm.) alle möglichen Früchte und Gemüse anbaut, darunter allein zehn Sorten an Maulbeeren.

Sie beraten auch Unternehmen. Spüren Sie auch bei den Produzenten ein Umdenken?

Vor allem in der Gastronomie, die von der Pandemie stark betroffen war und ist, aber zum Teil auch flexibel und innovativ darauf reagiert. Manche haben plötzlich komplett auf vegetarisch oder vegan umgestellt. Nicht, weil sie selbst Veganer sind, sondern weil sie es spannend finden, was man alles aus pflanzlichen Ausgangsprodukten kreieren kann. Das sind natürlich eher die Eliten. Sie experimentieren mit neuen Gemüsesorten und Aromen, zum Beispiel durch Fermentieren und Räuchern oder mit neuen Konsistenzen. Mit Paul Ivic und seinem Restaurant Tian haben wir da einen Meister in Wien. Das interessiert nicht nur Vegetarier.

Langfristig geht es in Richtung pflanzenbasiert. Davon bin ich überzeugt. Das wird Mainstream werden. Die Herausforderung ist, aus der eigenen Kultur heraus, neue fleischlose Gerichte zu erfinden, die ein spannendes Spiel an Konsistenzen und Geschmäckern haben. Weltweit gibt es viele Anleihen aus Asien oder der Levante. Aber man muss nicht indisch oder marokkanisch kochen, es ist auch spannend, unsere regionale Küche weiterzuentwickeln und an verschüttete Traditionen wieder anzuknüpfen, die im 20. Jahrhundert im Zuge der Kriegswirtschaft und der Industrialisierung verloren gegangen sind.

Sie haben gerade selbst gesagt, dass das eher elitäre Trends sind. Wird die Schere aufgehen?

Jeder starke Trend hat einen Gegentrend. Die Veganer haben die Medien erobert und lösten in der Gegenreaktion eine neue Liebe zum Fleisch aus, die sich vor allem an neuen Qualitäten orientiert. Gourmets und viele Köche richten ihren Fokus auf verschiedene Tierrassen und neue Formen der Haltung, Fütterung und Reifung – Stichwort Dry Aged Rindfleisch.

Zukunft passiert nie linear, sondern eher in Schleifen. Man muss nicht Veganer werden, um auf die tierethischen Debatten rund um die Fleischproduktion zu reagieren. Es gibt viele neue Antworten. Auch In-vitro-Fleisch bzw. Culture Meat sind solche. Wenn heute emotionaler und moralischer über das Essen gesprochen wird, ist das immer ein Zeichen, dass auch abseits vom Essen neu verhandelt wird, was falsch und was richtig ist. Durch diese Debatten gestalten wir gemeinsam unsere Zukunft neu.

Hanni Rützler wurde 1962 in Bregenz geboren. Sie studierte Ökologie und Wirtschaft an der Michigan Technology University und Ernährungswissenschaften an der Universität Wien. Von 1999 bis 2005 war sie Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Ernährung. Sie ist die Gründerin und Geschäftsführerin des futurefoodstudio in Wien und Referentin des deutschen Zukunftsinstituts, das jährlich ihren Foodreport herausgibt. Zuletzt erschien von ihr – gemeinsam mit ihrem Mann Wolfgang Reiter – „Muss denn Essen Sünde sein? Orientierung im Dschungel der Ernährungsideologien” (Brandstätter, Wien 2015).

Quelle: Hanni Rützler – “Immer mehr verstehen sich als Flexitarier” – Wiener Zeitung Online