17 Feb Interview: „Altern ist Umbau, nicht Abbau“
Last Updated on 2022-02-17
Sie ist Medizinerin, hat eine Psychotherapieausbildung und einen MBA in Health Care Management: Dr.in Irene Kloimüller arbeitet im Gesundheitsmanagement und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit alternsgerechtem Arbeiten. Im INARA-Gespräch erklärt sie, wie man leistungsfähig bleibt und den Übergang in den Ruhestand am besten bewältigt.
INARA: Wie können wir unsere körperliche und geistige Leistungsfähigkeit möglichst lange erhalten?
Dr. Irene Kloimüller: Altern ist wie unser ganzes Leben ein Entwicklungsprozess. Falsch wäre es, das Altern als reinen Abbau zu verstehen, es ist vielmehr ein Umbau. Auch ältere Menschen haben noch ein Entwicklungspotenzial. Wenn wir mit unseren Reserven und Ressourcen nachhaltig umgehen, dann können wir diese lange erhalten. Das gilt nicht nur für unsere körperliche Leistungsfähigkeit, sondern auch für die kognitive. Es stimmt einfach nicht, dass wir bereits mit 30 geistig abbauen. Was abnimmt, ist die Geschwindigkeit, mit der „unsinnige“ Dinge aufgenommen werden. Das junge Gehirn saugt alles auf wie ein Schwamm und sortiert Unwesentliches aus. Bei älteren Menschen braucht das Gehirn länger, bis eine neue Information „andockt“. Aber dann können wir mit der Information mehr anfangen als junge Menschen.
INARA: Reicht es, sich ab etwa 50 mit diesem Thema zu beschäftigen?
Kloimüller: Nein, ganz und gar nicht. Bereits ab dem 30. Lebensjahr verliert der Mensch bis zu zehn Prozent Muskelmasse pro Jahr. Beschleunigt wird der Muskelabbau durch Bewegungsmangel. Wer in der Jugend mehr Muskelmasse aufbaut, hat eine größere Reserve. Und dann heißt es dranbleiben und den Abbau verlangsamen. Ganz schlecht ist es, beim Arbeiten im Büro oder Home-Office stundenlang zu sitzen. Sitzen ist das neue Rauchen, das ist unter MedizinerInnen heute unbestritten. Hier muss man unbedingt gegensteuern. Auch bei einseitiger körperlicher Arbeit braucht man einen entsprechenden Ausgleich. In Bewegung bleiben sollte aber nicht nur der Körper, sondern auch unser Geist. Denn auch das Gehirn kann man trainieren wie einen Muskel. In beiden Bereichen ist es wichtig, immer einen Schritt weiterzugehen als notwendig.
INARA: Die Lebenserwartung ist in Österreich recht hoch und sie steigt weiter. Wie sieht die Gesundheit der Älteren in Österreich im internationalen Vergleich aus?
Kloimüller: Beim Indikator gesunde Lebensjahre liegen wir schlechter als der EU-Schnitt. In Österreich sind es für Männer 57, in der EU 63,5 Jahre, bei Frauen sind es 57,1 und 64,2 Jahre. Statistiken zeigen, dass wir leider ungesünder leben als der EU-Schnitt. Schuld daran sind Rauchen, zu viel Alkohol, ungesunde Ernährung und mangelnde Bewegung. Außerdem neigen wir dazu, eher das Negative zu sehen, d.h. das Glas ist für uns halb leer statt halb voll.
INARA: Sie beschäftigen sich intensiv mit alternsgerechtem Arbeiten. Was versteht man darunter und wie kann man das bewerkstelligen?
Kloimüller: Alternsgerechtes Arbeiten bedeutet, Arbeitsprozesse so zu organisieren, dass die Menschen bis zum Erreichen des Pensionsalters gesund im Erwerbsleben bleiben können und zwar produktiv und innovativ. Dabei wird ein präventiver Ansatz verfolgt, in dem man Potenziale und Bedürfnisse der MitarbeiterInnen in allen Lebensphasen berücksichtigt. In Österreich vergibt das Sozialministerium für Betriebe und Organisationen, die hier vorbildlich agieren, das Gütesiegel NESTOR GOLD. Ich habe an dessen Entwicklung mitgearbeitet. Heute bin ich Assessorin und berate Betriebe, die sich um dieses Gütesiegel bewerben.
INARA: Könnten Sie uns ein paar Beispiele für alternsgerechtes Arbeiten nennen?
Kloimüller: Neben selbstverständlichen Dingen wie ergonomisch einwandfreien Arbeitsplätzen könnte man beispielsweise eine höhere Leuchtendichte vorsehen, weil ab ca. 45 bei den meisten Menschen die Alterssichtigkeit beginnt. Für einseitige körperliche Tätigkeiten braucht es einen Ausgleich, etwa durch ein entsprechendes Bewegungsprogramm. Veränderung tut auch im Berufsleben gut, ein Wechsel der Aufgaben – wobei die Jobrotation durchaus innerhalb des eigenen Kompetenzbereichs erfolgen kann – wirkt sich meist positiv aus. Auch bei der Arbeitszeit kann man ansetzen, etwa mit mehr Flexibilität und längeren Pausen für ältere Mitarbeiter oder mit der Altersteilzeit. Ältere MitarbeiterInnen sind auch gute MentorInnen für jüngere MitarbeiterInnen, das ist fast immer eine Win-Win-Situation.
INARA: Welche Faktoren sind dafür verantwortlich, dass man das gesetzliche Pensionsalter erreicht und nicht vorzeitig aus dem Arbeitsprozess ausscheidet?
Kloimüller: Natürlichen spielen hier körperliche Belastungen eine Rolle, ganz wesentlich ist aber die Motivation. Ich möchte das an einem Beispiel erläutern. Im Wiener AKH erreichen trotz der belastenden Arbeit fast alle Reinigungskräfte das gesetzliche Pensionsalter. Entscheidend dafür ist, dass man ihnen vermittelt, wie wichtig ihre Arbeit und vor allem die Hygiene, für die sie ja sorgen, für einen funktionierenden Krankenhausbetrieb ist. Anders als früher werden die Reinigungskräfte dort heute gegrüßt, sie gehören einfach dazu. Diese Wertschätzung ist ganz entscheidend. Wichtig ist auch die „healthy literacy“, also die Gesundheitskompetenz jedes Einzelnen, damit er seinen eigenen Handlungsspielraum nutzen kann.
INARA: Wie kann sich jeder Einzelne auf die Pension vorbereiten?
Kloimüller: Vor allem sollte man sich mit Thema rechtzeitig auseinandersetzen, also schon einige Jahre vor dem Erreichen des Pensionsalters. Wie lange will ich arbeiten, ist eine reduzierte Arbeitszeit in den letzten aktiven Jahren für mich das Richtige, will ich nach der Pensionierung noch in irgendeiner Form weiterarbeiten oder vielleicht ehrenamtlich tätig sein? Das alles und noch vieles mehr sollte man durchdenken, vielleicht auch einen Coach beiziehen. Heutzutage beginnen Menschen mit 60 oft noch ein Studium, das war früher völlig unüblich. Es geht vor allem darum, den vielzitierten „Pensionsschock“ zu vermeiden. Hobbys und Enkelkinder allein sind dafür oft nicht genug. Wichtig ist, ein positives Bild vom Alter aufzubauen, weg von der Vorstellung, dass ältere Menschen nur mehr im Park sitzen und Tauben füttern.
INARA: Und wie können die Gesellschaft bzw. Unternehmen Menschen den Übergang in den Ruhestand erleichtern?
Kloimüller: Es gibt Unternehmen, die für ihre MitarbeiterInnen Übergangsmanagement praktizieren, auch das Arbeitsmarktservice (AMS) beschäftigt sich bereits damit und mit einer aktiven Ausstiegskultur. Zu erwähnen wären hier weiters die Plattform zur Förderung persönlicher & organisatorischer Übergänge, s. Wir über uns – Plattform Übergangsmanagement (xn--bergangsmanagement-l6b.at) sowie diverse Employee Assistance Programme. In Österreich wird das z.B. durch das EAP Institut angeboten. Angesprochen wird dabei die körperliche und die mentale Ebene, denn beides ist für den Übergang wichtig. Dabei müssen sowohl die betroffenen MitarbeiterInnen selbst als auch die Führungskräfte für das Thema sensibilisiert und die betriebliche Organisation entsprechend angepasst werden.
INARA: Der Klimawandel ist eines der wichtigsten Themen unserer Zeit. Vor allem die Jugend engagiert sich hier sehr stark – Stichwort Fridays for Future. Können und sollen auch ältere Menschen hier etwas beitragen?
Kloimüller: Wir alle müssen uns wegen des Klimawandels, der ja für ältere Menschen besonders belastend ist, von unserem erlernten Konsumverhalten verabschieden. Die Älteren, die bei Wohnen, Reisen, Essen usw. einen bestimmten Standard gewöhnt sind, sollten da und dort verzichten lernen. Es ist eben nicht mehr alles selbstverständlich, wie wir das lange geglaubt haben. Jetzt geht es um Suffizienz. Das steht für ein Weniger, ein Begrenzen, den sparsamen Umgang mit Material und Energie.
INARA: Was können Ältere konkret tun?
Kloimüller: Jeder von uns kann Bereiche finden, wo er sich etwas einschränken und damit vielleicht sogar seine Lebensqualität steigern kann. Beispiele dafür gibt es genug. So könnten wir unser Konsumverhalten überdenken und uns fragen, ob wir dieses oder jenes Stück tatsächlich brauchen. Auch der Umstieg auf Vintage- oder recycelte Produkte, die heute schon breit angeboten werden, wäre eine Möglichkeit. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen muss nicht lustfeindlich sein. Es geht darum, der nächsten Generation – etwa unseren Enkeln – eine lebenswerte Welt zu hinterlassen.
@Nadine Ponjioni
Autorin: Brigitta Schwarzer