Interview mit Konrad Liessmann: „Wir brauchen einen neuen Zugang zum Alter“

Interview mit Konrad Liessmann: „Wir brauchen einen neuen Zugang zum Alter“

Last Updated on 2020-07-23
Es gibt immer mehr alte Menschen, das hat zu ihrer Entwertung geführt. Nach Meinung des Philosophen und Kulturpublizisten Univ.-Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann sollte aber niemand krampfhaft versuchen, jung und fit zu bleiben. Liessmann ist für das bedingungslose Grundeinkommen, fordert aber gleichzeitig, dass Leistungsträger entsprechend entlohnt werden. Wir alle sollten künftig weniger arbeiten. Das starre Regelpensionsalter will Liessmann durch ein flexibles System ersetzen.

INARA: Beschäftigt sich die Philosophie auch mit dem Phänomen Alter?
Univ.-Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann:  Weil es dabei um Lebensverhältnisse und um das Verhältnis der Generationen zueinander geht, ist das Alter immer auch ein Thema der Philosophie. Das Alter rührt auch an die Phänomene Krankheit, Sterben und Tod, und das sind einige der Grundfragen der Philosophie seit der Antike. Und nicht zuletzt ist das Bild des Philosophen selbst vom Alter gekennzeichnet – nicht nur, weil die Philosophie zu den ältesten Wissenschaften gehört. Zwar gibt es heute sehr begabte junge Philosophinnen, die es aber nicht leicht haben. Geprägt ist das Bild unserer Zunft noch immer vom alten und weisen Mann.

INARA: Die Lebenserwartung steigt, die Geburtenentwicklung ist rückläufig. Was bewirkt diese paradoxe Situation in unserer Gesellschaft?
Liessmann: Demografen haben errechnet, dass im Jahr 2030 in Westeuropa die Mehrheit der Bevölkerung älter als 60 sein wird. Früher gab es nur wenige Alte, deshalb wurden sie geachtet und geehrt. Heute werden die alten Menschen immer mehr, sie sind keine Besonderheit mehr. Und das führt zu ihrer Entwertung. Umgekehrt macht der Mangel an jungen Menschen diese zu etwas Besonderem, sie setzen die Trends, fast alle Leitbilder kommen von ihnen. Unsere Gesellschaft altert also demografisch und verjüngt sich gleichzeitig normativ. Wir Philosophen sollten darüber einen Nachdenkprozess starten.

INARA: Die Entwertung des Alters ist Ihrer Meinung nach also zumindest teilweise falsch?
Liessmann: Natürlich kommt die Innovation mehrheitlich von den Jungen, alle Erwartungen der Gesellschaft konzentrieren sich auf sie. Aber es gibt auch vieles, was die älteren Menschen auszeichnet, zum Beispiel Einsicht, Erfahrung, Gelassenheit in schwierigen Situationen. Wichtig wäre es, die Potenziale der Älteren wieder zu entdecken. Sie haben aufgrund der Lebenserfahrung eine größere Fähigkeit zum vernetzten Denken und zur Vermittlung in den unterschiedlichsten Bereichen. Auch ihre soziale Kommunikationsfähigkeit ist meist größer als jene der jungen Menschen. Das alles wird aber zurzeit nicht gesehen, ist einfach kein Thema.

INARA: Viele in der älteren Generation versuchen krampfhaft, möglichst lang jung und fit bleiben …
Liessmann: Dieses Verhalten finde ich falsch. Wir brauchen einen neuen Zugang zum Alter, wir sollten uns darauf einstellen, dass wir alt werden. Ältere müssen auch akzeptieren, dass ihr physischer Aktionsradius kleiner wird. Bei der geistigen Aktivität sind sie den Jungen ja oft überlegen. Viele junge Menschen sind nur Konsumenten und lediglich in bestimmten Bereichen belastbar. Ich finde es auch bezeichnend, dass viele Junge zwar weniger arbeiten, aber viel häufiger ins Burnout rutschen.

INARA: Viele Menschen fürchten sich davor, im Alter dement zu werden. Wie beurteilen Sie diese Angst?
Liessmann: Aufgrund der steigenden Lebenserwartung wird es wohl immer mehr demente Alte geben. Vielleicht können wir von ihnen etwas lernen, zum Beispiel wie man „im Augenblick“ lebt. Demente Menschen müssen die Möglichkeit haben, ein würdiges Leben zu führen. Das ist nicht nur eine individuelle, sondern auch eine soziale Verantwortung.

INARA: Damit sind wir beim Pflegethema, das ja derzeit ganz oben auf der politischen Agenda steht. Wie sieht das der Philosoph?
Liessmann: Alt sein kann auch bedeuten, pflegebedürftig zu werden. Wir müssen uns allmählich davon verabschieden, dass Pflegefälle die Ausnahme sind. Philosophisch gesprochen: Wer Pflege braucht, hat einen Anspruch darauf, ohne dass seine Würde in Frage gestellt wird. Auch die Würde eines Kindes wird nicht dadurch beeinträchtigt, dass es auf andere Menschen angewiesen ist. Und Pflege ist eine hochwertige Leistung, sie sollte deshalb besser bezahlt werden.

INARA: Die Digitalisierung verändert zunehmend unser Leben, auch viele Arbeitsplätze werden dadurch wegfallen. Wie sollten wir damit umgehen?
Liessmann: Prinzipiell wird sich die klassische Arbeitsplatzsituation verändern. Es werden völlig neue Berufsbilder im sozialen und kommunikativen Bereich entstehen, von denen wir heute noch keine Ahnung haben. Die klassische Arbeit wird nicht verschwinden, aber weniger dominant werden. Wir werden uns möglicherweise davon verabschieden müssen, dass Arbeit die zentrale sinnerfüllende Instanz im Leben ist. Viele junge Menschen sehen das heute schon so.

INARA: Was heißt das konkret?
Liessmann: Im Schnitt könnten künftig alle weniger arbeiten und sich mehr Dingen zuwenden, die die Möglichkeit zur persönlichen Entwicklung bieten. Die Pflege persönlicher Beziehungen und Betreuungstätigkeiten (Kinder, Alte, Behinderte usw.), die nach unserem Verständnis heute keine Arbeit sind, sollten ein anderes Rollenverständnis bekommen. Nicht nur die Arbeitsmärkte würden sich dadurch entspannen.

INARA: Kann auch jemand, der nicht arbeitet, für die Gesellschaft Positives bewirken?
Liessmann: Es gab immer schon Menschen – man denke an den Bürger einer antiken Stadt – die stolz darauf waren, nicht zu arbeiten und gerade deshalb etwas für das Gemeinwohl zu leisten. Viele Aristokraten hatten nie den Anspruch zu arbeiten. Aber sie haben Kunst gesammelt, gelesen, Politik betrieben, Kriege geführt und sich fleißig fortgepflanzt. Ich sehe hier durchaus Anreize für künftige Arbeitsmodelle. Es hat fleißige und faule Aristokraten gegeben. Aber alle haben ohne schlechtes Gewissen gut gelebt, natürlich oft auf Kosten anderer. Aber das aktuelle Arbeitsethos gibt es erst seit etwa 200 Jahren.

INARA: Was sagen Sie jenen, die ihren Job durch die Digitalisierung verlieren?
Liessmann: Wir werden um irgendeine Variante eines bedingungslosen Grundeinkommens wahrscheinlich nicht herumkommen. Dann hat jeder Mensch mehr Möglichkeiten, sich nach seinen persönlichen Talenten und Fähigkeiten einzubringen. Ich rechne damit, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit künftig fließender werden. Vielleicht wird man künftig für Tätigkeiten, die heute ehrenamtlich ausgeübt werden, eine Bezahlung bekommen und umgekehrt. Als Beispiel möchte ich hier die Zweite Bank erwähnen, eine gemeinnützige Aktion der Erste Bank, bei der ehrenamtliche Mitarbeiter Menschen helfen, ihre gravierenden Schuldenprobleme in den Griff zu bekommen. Viele Menschen wollen arbeiten, aber man gibt ihnen nicht die Möglichkeit. Berufliche Umorientierung wird in Zukunft zur Normalität werden, bei den Jungen ist das heute schon so. Generell wäre es gut, auch beim Thema Arbeit mehr Flexibilität zuzulassen. Arbeit sollte anders verteilt werden, wir sollten in einer Lebensarbeitszeit-Bilanz denken. Dann hätten wir auch das Thema Altersarbeitslosigkeit nicht.

INARA: Womit wir schon fast beim politisch heiklen Pensionsthema wären…
Liessmann: Ich bin gegen ein starres Regelpensionsalter und plädiere stattdessen für einen flexiblen Pensionsantritt mit Einschleifregelungen wie das beispielsweise in Finnland praktiziert wird. Wenn wir ein flexibles Lebensarbeits-Konzept hätten, wie ich das vorschlage, wäre das Alter überhaupt kein Thema mehr. Auch Konjunkturschwankungen könnte man damit besser abfangen.

INARA: Den Stellenwert der Arbeit zu reduzieren wird – siehe die aktuelle politische Debatte um die Mindestsicherung – manchen nicht gefallen. Soll Leistung keine Bedeutung mehr haben?
Liessmann: Ich bin absolut dafür, dass Leistungsträger entsprechend entlohnt werden müssen und materielle und immaterielle Anerkennung bekommen. Am Arbeitsmarkt muss es aber mehr Ehrlichkeit geben. Der Druck und das Lohndumping, das es vor allem bei unangenehmen Tätigkeiten etwa in der Reinigung oder der Pflege gibt, müssen fallen. Menschen, die wirklich etwas leisten, werden heute ja oft schlecht bezahlt, andererseits gibt es Spitzeneinkommen, die durch keine Leistung gerechtfertigt sind.

Autorin: Dr. Brigitta Schwarzer, MBA