Interview: Mit Resilienz durch die Energiekrise und in die Energiezukunft

Interview: Mit Resilienz durch die Energiekrise und in die Energiezukunft

Last Updated on 2023-07-28
evn.at I Investor Relations

Für die EVN sollte 2022 im Zeichen des 100-jährigen Firmenjubiläums stehen. Stattdessen erlebte die Energiebranche ungewöhnlich heftige Verwerfungen.

 Wie beurteilen Sie das vergangene Jahr im Gesamtbild?

Stefan Szyszkowitz: Ganz ohne Zweifel erlebt die Energiebranche eine bisher einzigartige Situation, das Ausmaß der Verwerfungen ist massiv und die Dimension historisch. Eine vertiefte Analyse der Lage zeigt, dass mehrere Faktoren zusammengekommen sind, die letztlich diese beispiellose Situation verursacht haben: Bereits im Sommer 2021 führte der einsetzende Wirtschaftsaufschwung nach der Covid-19-Pandemie zu einer Steigerung des Energiebedarfs und in der Folge auch zu einer Erhöhung der Energiepreise. Als zusätzlicher Preistreiber bei Erdgas und Strom wirkte damals die von der Europäischen Union gewünschte Verknappung und damit Verteuerung der CO2-Emissionszertifikate. Darauf folgten zunächst Kriegsrhetorik, dann der Kriegsbeginn in der Ukraine im Februar 2022 und seither immer neue Eskalationen rund um russische Gaslieferungen. Die Terminpreise für Energie wurden zum Abbild all dieser Entwicklungen – und zeigen nicht nur immer neue Höchststände, sondern auch eine starke Volatilität und damit Unsicherheit. Unserer Einschätzung nach wird eine Normalisierung noch einige Zeit auf sich warten lassen. Davon gehen wir auch in unseren aktualisierten Planungen aus.

Wenn – wie das 2022 für uns der Fall war – in einem Jahr die größte Krise unserer Branche mit dem 100-jährigen Bestandsjubiläum des eigenen Unternehmens zusammenfallen, beeinflusst das natürlich auch die aktuelle Positionsbestimmung: „Wie steht die EVN in ihrem 100. Jahr eigentlich da?“ Doch ungeachtet der Krise kommen wir hier zu einem sehr positiven Resümee: Die EVN ist – allen momentanen Widrigkeiten und Unsicherheiten zum Trotz – sehr stabil aufgestellt! Diese Resilienz ist letztlich auch das Ergebnis einer über 100 Jahre gelebten Unternehmenskultur, mit der sich Haltungen wie Achtsamkeit, Weitsicht und Änderungswille tief in unsere DNA eingeschrieben haben. Dies verdanken wir unseren Kolleginnen und Kollegen, die – damals wie heute – mit ihrer Expertise und ihrem Engagement laufend zur Diversifizierung und Weiterentwicklung unseres Geschäftsmodells beigetragen haben und dies weiterhin tun. Dank dieses Spirits sind wir auch in der Lage, auf unerwartete Situationen wendig und lösungsorientiert zu reagieren.

Welche Auswirkungen hat die Energiekrise auf Ihre Kundinnen und Kunden? 

Franz Mittermayer: Die Preisentwicklungen beschäftigen uns seit Beginn der Marktverwerfungen natürlich intensiv. Unsere Verantwortung zur Wahrung der ökonomischen Interessen der EVN und ihrer Stakeholder ist in der aktuellen Situation besonders gefordert. Vor diesem Hintergrund war die schrittweise Weitergabe der gestiegenen Beschaffungskosten an unsere Kundinnen und Kunden alternativlos. Gleichzeitig war es uns ein großes Anliegen, gerade für die vulnerablen Kund*innengruppen die Treffergenauigkeit der von Bund und Land initiierten monetären Hilfen bestmöglich zu unterstützen. Zu diesem Zweck haben wir z. B. im September 2022 eine breite Informationskampagne gestartet, die darauf abzielte, dass alle niederösterreichischen Haushalte möglichst rasch die ihnen zustehenden Rabatte und Förderungen nutzen können. Dabei haben wir auch ganz proaktiv den Kontakt zur Bevölkerung gesucht, indem wir Mitarbeiter*innen unseres Customer Relations Teams mit einem EVN Bus einen Monat lang in alle Ecken unseres Versorgungsgebiets geschickt haben.

In unserer Kampagne haben wir anhand einfach umzusetzender Stromspartipps auch konkrete Einsparpotenziale aufgezeigt. Zudem haben wir mit Optima Smart Natur ein innovatives Angebot entwickelt, das zwei tages- bzw. tageszeitabhängige Tarife beinhaltet. Damit nutzen wir die Vorteile der Smart Meter, die – Aktivschaltung vorausgesetzt – ein Auslesen des Stromverbrauchs im Viertelstundentakt ermöglichen. Anhand dieser exakten Informationen über den Energieverbrauch können Kosten gespart werden, indem Strom möglichst zum günstigeren Tarif während der Abend- und Nachtstunden bezogen und dadurch das Verbrauchsverhalten preislich optimiert wird. Rund 5.000 Kundinnen und Kunden haben inzwischen auf diesen Tarif gewechselt.

Gibt es in der aktuellen Situation auch Beispiele für die „Krise als Chance“?

Franz Mittermayer: Ohne die enorme Belastung der Volkswirtschaften durch die Teuerung bei Energie schönreden zu wollen, können wir aktuell doch so manchen Paradigmenwechsel beobachten. Ein massives Umdenken gibt es z. B. beim Verbrauch von Energie, und das Thema Effizienzsteigerung als Anreiz für Konsument*innen findet plötzlich breite Akzeptanz. In Zeiten drängender klimapolitischer Fragen, aber auch knapper Ressourcen – neben Erdgas angesichts des niederschlagsarmen Sommers zuletzt auch Wasserkraft – wird bewusst, dass jede nicht benötigte Kilowattstunde Strom zur Stabilität des Energiesystems beiträgt. Eine weitere interessante Entwicklung im Diskurs über die langfristige Transformation dieses Systems ist die Erkenntnis, dass die geänderten Preisniveaus neue Technologien aus der Nische unrentabler Zukunftsoptionen in das Stadium erster industrieller Versuchsanlagen versetzen. Ein Beispiel dafür sind etwa die zur Produktion von Grüngas erforderlichen Elektrolyseanlagen.

Energiezukunft und Klimapolitik bringen uns gleich zum nächsten Thema. Welche neuen Entwicklungen gibt es hier?

Stefan Szyszkowitz: Als wir vor mittlerweile zwei Jahren unsere Strategie 2030 erarbeitet haben, stand für uns zweifelsfrei fest, dass wir uns eng an den für unsere Branche relevanten internationalen Rahmenwerken orientieren wollen, so etwa den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen oder Zielsetzungen der Energie- und Klimapolitik wie dem Pariser Klimaabkommen oder dem European Green Deal. Vor einem Jahr haben wir dann mit der Science Based Targets Initiative einen Pfad zur sukzessiven Reduktion unserer Treibhausgasemissionen bis 2034 akkordiert. Diese Ziele haben wir auch in unsere mittel- und langfristige Finanzplanung integriert. Zusätzlich haben wir die Kampagne „Wir fürs Klima – die EVN Klimainitiative“ gestartet, um unsere internen und externen Stakeholder auch emotional stärker in unsere Ambitionen einzubinden. Denn unsere Ziele erreichen wir nur, wenn alle gemeinsam dazu beitragen und die Energiezukunft auch realisieren wollen.

Damit wären wir beim nächsten Thema, den Investitionen …

Franz Mittermayer: Wir bekennen uns weiterhin zu unserem Investitionsprogramm, das wir im Rahmen der Strategie 2030 aufgestellt haben und das ein jährliches Volumen von 500 Mio. Euro – bzw. tendenziell sogar mehr – vorsieht. Mit diesen Investitionen positionieren wir unsere Gruppe bei allen zentralen Zukunftsthemen ganz klar und nehmen in Sachen erneuerbare Erzeugung, Netzinfrastruktur und Trinkwasserversorgung eine Schlüsselrolle in Niederösterreich ein. Denn auf diese Bereiche entfallen etwa drei Viertel unserer jährlichen Investitionen.

Der Ausbau im Bereich erneuerbare Energien legt – nach einigen mühsamen Jahren mit überaus langwierigen Genehmigungsverfahren – an Dynamik zu: Bei Windkraft hatten wir per 30. September 2022 eine installierte Leistung von 407 MW und können auf Basis der aktuell vorliegenden Genehmigungen weitere zwei Windparks mit einer zusätzlichen Kapazität von insgesamt 55 MW sowie ein Repowering realisieren. Damit liegen wir gut im Plan, um den bis 2030 geplanten Ausbau auf eine Gesamt-Windkraftkapazität von 750 MW zu schaffen.

Auch bei Photovoltaik ist unsere Projekt-Pipeline gut gefüllt. Damit sind wir gut unterwegs in Richtung der ebenfalls bis 2030 angestrebten Kapazität von 300 MW. Aktuell errichten wir in Trumau südlich von Wien auf einer ehemaligen Deponie unsere erste Großflächen-Photovoltaikanlage mit 10 MW. Sehr beeindruckend ist übrigens auch der private Photovoltaikausbau in Niederösterreich, der gleichzeitig die Notwendigkeit unserer Netzinvestitionen unterstreicht: Ins niederösterreichische Netz speisen heute bereits 58.000 Photovoltaikanlagen mit einer Leistung von über 684 MW Strom ein.

In Krems soll Anfang 2023 nach nur knapp zwei Jahren Bauzeit unsere neue Biomasse-Cogeneration-Anlage in Betrieb gehen. Von hier aus werden wir mit regionaler Biomasse rund 15.000 Haushalte mit Ökostrom und rund 30.000 Haushalte mit Naturwärme versorgen. Neben dem weiteren Ausbau von Biomasse-Heizwerken, für die uns in Niederösterreich ausreichend heimische Biomasse zur Verfügung steht, prüfen wir derzeit eine Reihe weiterer Optionen, den Einsatz von Erdgas zur Raumwärmeproduktion zu reduzieren. Zu diesen Alternativen zählen Wärmepumpen (betrieben durch erneuerbaren Strom) ebenso wie Geothermie oder die Substitution von Erdgas durch Methan.

Im Bereich Wasser versorgt unsere mittlerweile fünfte Naturfilteranlage bereits seit März 2022 von Petronell aus etwa 50.000 Kundinnen und Kunden in der Region rund um den Flughafen Wien-Schwechat mit natürlich enthärtetem Trinkwasser. Gerade der überdurchschnittlich heiße und niederschlagsarme Sommer dieses Jahres hat zudem verdeutlicht, wie wichtig unsere laufenden Investitionen in den Ausbau überregionaler Versorgungsleitungen sind. Nur dadurch können wir angesichts steigenden Wasserbedarfs bei gleichzeitig regional rückläufigen Grundwassermengen weiterhin eine optimale Verteilung aus unseren Brunnenanlagen und Hochbehältern gewährleisten.

Für all diese ambitionierten Projekte benötigen Sie qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Inwiefern ist der viel thematisierte Fachkräfte- bzw. Personalmangel auch für die EVN ein Thema?

Stefan Szyszkowitz: Wir sind überzeugt, dass sich unsere Arbeitskultur weiter entwickeln muss, und dürfen diese Frage nicht auf Schlagworte wie mobiles Arbeiten reduzieren. Ein großer Teil dieses Wandels muss auch von der EVN als Arbeitgeberin ausgehen. Um das anhand eines Beispiels zu verdeutlichen: In unserem Unternehmen hatten wir schon immer die Tradition, dass sich Kolleginnen und Kollegen in wechselnden Tätigkeitsgebieten bewähren, mit Herausforderungen wachsen und mit zunehmender Verantwortung weiterentwickeln konnten. Wenn uns künftig gerade in den technischen Disziplinen qualifizierte Arbeitskräfte fehlen und gleichzeitig der Pool geeigneter Kandidatinnen und Kandidaten immer kleiner wird, müssen wir die EVN mit einem klaren Bekenntnis zu Vielfalt noch viel stärker öffnen. Dadurch soll eine Kultur entstehen, die der Diversität unserer heutigen Zeit entspricht. Zudem setzen wir in der Kommunikation mit dem Arbeitsmarkt über alle Regionen und Tätigkeitsbereiche hinweg auf Employer Branding und somit auf eine positive Wahrnehmung der EVN auch als Arbeitgeberin

Welche Neuigkeiten gibt es aus dem internationalen Projektgeschäft?

Franz Mittermayer: Bei unserem Großprojekt in Kuwait konnten wir im Geschäftsjahr 2021/22 gute Fortschritte erzielen, nachdem der Projektstart aufgrund der Corona-bedingten Lockdowns, insbesondere einer monatelangen Sperre des kuwaitischen Flughafens, sowie Beeinträchtigungen internationaler Lieferketten sehr erschwert worden war. Für diese unverschuldeten Verzögerungen haben wir Kompensation angemeldet und befinden uns dazu in guten Gesprächen mit den zuständigen Ministerien und Behörden. Wichtig ist jetzt jedoch der planmäßige Baufortschritt. Ende September 2022 lag der Fertigstellungsgrad der Kläranlage bereits bei etwa 60 % und jener der Abwasserinfrastruktur bei etwa 40 %. Planmäßigen Projektverlauf vorausgesetzt, werden wir die Errichtung der Kläranlage bis Ende des Geschäftsjahres 2022/23 abschließen können.

Positive Neuigkeiten gibt es aber auch von unseren Projekten im Bereich thermische Klärschlammverwertung. Während die von unserem 50:50-Joint-Venture sludge2energy errichtete Anlage in Halle-Lochau im April 2022 bereits in Betrieb genommen werden konnte, erfolgte im September 2022 der Baubeginn für eine weitere Klärschlammverwertungsanlage in Berlin-Waßmannsdorf.

Entgegen allen aktuellen Unsicherheiten arbeitet die EVN also fokussiert an der Umsetzung ihrer Strategie 2030. Das sollte auch der Kapitalmarkt wohlwollend aufnehmen

Stefan Szyszkowitz: Das tut er tatsächlich. Die EVN Aktie hat ihre Position im ATX gut abgesichert, seit im März 2021 die angestrebte Rückkehr in diesen Leitindex der Wiener Börse gelungen ist. Wir bekennen uns klar dazu, die EVN auf der Grundlage unserer Strategie als attraktives Investment für ESG- und nachhaltigkeitsorientierte Investor*innen zu positionieren. Deshalb berichten wir – auf freiwilliger Basis – auch bereits für unser Geschäftsjahr 2021/22 den Anteil unserer gemäß EU-Taxonomie-Verordnung ökonomisch nachhaltigen Geschäftstätigkeiten an Umsatz, CapEx und OpEx.

Wir sehen uns als stabiler Partner für unsere Aktionär*innen. Für das Geschäftsjahr 2021/22 werden wir der Hauptversammlung eine Dividende von 0,52 Euro pro Aktie vorschlagen. Für die Zukunft zielt unsere Dividendenpolitik darauf ab, die jährliche Dividende zumindest konstant zu halten. Gleichzeitig beabsichtigen wir, unsere Aktionär*innen an künftigen Ergebnissteigerungen in angemessener Höhe partizipieren zu lassen.

Zudem streben wir den Erhalt unserer Ratings im soliden A-Bereich an und achten deshalb besonders darauf, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Ertragskraft und Nettoverschuldung zu halten. Dabei sehen wir aber durchaus einen gewissen Spielraum für temporäre Schwankungen in unserer Nettoverschuldung – angesichts unserer Investitionserfordernisse und des Finanzierungsbedarfs für unser Working Capital.

Die bereits erwähnte Resilienz unseres Geschäftsmodells, unsere Strategie 2030 samt Dekarbonisierungspfad sowie unser Investitionsprogramm mit seinem klaren Fokus auf unsere regulierten und stabilen Geschäftsfelder senden ein klares Signal in Richtung Kapitalmarkt: Die EVN ist gut aufgestellt und für die Herausforderungen unserer Zeit gerüstet!

Quelle: Quelle EVN-Ganzheitsbericht 2021/22, veröffentlicht am 15.12.2022, Investor Relations | EVN