Interview: Sie hat immer „ohne Geländer“ gedacht

Interview: Sie hat immer „ohne Geländer“ gedacht

Last Updated on 2023-03-17
Sie war eine der wichtigsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihr Werk fasziniert und inspiriert bis heute. Vor allem junge Menschen spricht ihr Aufruf zum Ungehorsam an, sie selbst ging Kontroversen nie aus dem Weg. Hier das – natürlich fiktive – Interview mit Hannah Arendt.

INARA: Bitte erzählen Sie uns etwas über Ihre Kindheit und Jugend.

Hannah Arendt: Ich wurde 1906 als Tochter säkulärer jüdischer Eltern in der Nähe von Hannover geboren und wuchs als Einzelkind in den gebildeten liberalen Kreisen von Königsberg auf. 1924 begann ich im Marburg Philosophie zu studieren. Später wechselte ich nach Freiburg und Heidelberg. Meine Promotion war 1928. Danach arbeitete ich einige Jahre wissenschaftlich sowie als Journalistin.

INARA: Dieser Weg war für eine junge Frau damals eher ungewöhnlich. Sie waren wohl schon in der Jugend nicht gerade angepasst.  Wie kam es dazu? 

Arendt: Dass ich Philosophie studieren wollte, wusste ich schon mit 14. Da las ich bereits Kant, Jaspers und Kierkegaard. Das war für Mädchen zu dieser Zeit in der Tat höchst ungewöhnlich und wäre es wohl auch heute noch. Meine Mutter war eine selbstbewusste, gebildete Frau, die der Sozialdemokratie nahestand. Für sie war es selbstverständlich, dass auch Mädchen eine gute Bildung erhalten und später einen Beruf haben sollten. Sie weckte auch mein Gerechtigkeitsempfinden. Das hat mich sicher fürs Leben geprägt. Ich hatte immer gute Noten, war aber recht rebellisch und wurde sogar einmal der Schule verwiesen. Das Abitur machte ich dann extern und zwar mit sehr gutem Erfolg.

INARA: „Es ist ein Fluch, in interessanten Zeiten zu leben.“ So lautet eines der von Ihnen überlieferten Zitate. Und dieser Fluch hat Sie ja auch ereilt.

Arendt: Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 musste ich Deutschland verlassen, zuvor war ich kurzfristig von der Gestapo inhaftiert worden. Ich ging zunächst über Prag nach Paris und arbeitete für jüdische Flüchtlingsorganisationen. Als die deutsche Wehrmacht immer näher rückte und wir als deutschstämmige Ausländer interniert werden sollten, floh ich mit meinem Ehemann und meiner Mutter, die ich gerade noch aus Königsberg herausholen konnte, über Lissabon nach New York.

INARA: Als eine von sehr vielen ImmigrantInnen hatten Sie es in den USA bestimmt nicht leicht.

Arendt: Ja, am Anfang war es wirklich schwierig, ich musste auch erst die Sprache lernen. Dann fand ich aber schnell Arbeit als Lektorin und habe mich in diversen jüdischen Organisationen engagiert. Ich war damals staatenlos, weil mich die Nazis ausgebürgert hatten. Diese Situation, in der man ziemlich rechtlos ist, hat mich sehr belastet. 1951 bekam ich die US-Staatsbürgerschaft. Und 1953 erhielt ich endlich eine, wenn auch befristete Professur am Brooklyn College (New York). Damit begann meine akademische Karriere. Sie führte mich dann weiter nach Princeton, Harvard, Chicago und schließlich an die New School for Social Research in New York, wo ich bis zu meinem Tod tätig war.

INARA: Sie haben durch Ihre Arbeit immer wieder für Aufsehen und auch Kritik gesorgt. Erzählen Sie uns bitte etwas darüber.

Arendt: Einen Sturm der Entrüstung, heute würde man wahrscheinlich shitstorm sagen, verursachten 1960 meine Berichte in „The New Yorker“ über den Eichmann-Prozess und später das Buch, das ich darüber verfasst habe. In diesem sprach ich von der „Banalität des Bösen“, für mich war Eichmann einfach ein Hanswurst. Man warf mir wegen meines Urteils über ihn sogar Antisemitismus vor. Auch meine Idee für ein bi-nationales Palästina, in dem Juden und Araber gleichberechtigt zusammenleben sollten, stieß damals auf großes Unverständnis. Auch sonst gab es immer wieder Kontroversen über meine Arbeit. Das liegt wohl daran, dass ich mir nie ein Blatt vor den Mund genommen habe.

INARA: Gibt es einen Schlüsselsatz, der Sie charakterisiert?

Arendt: „Ich will verstehen“ – das war immer meine Maxime. Menschen, die nicht denken, sind für mich wie Schlafwandler. Ich wollte also den Dingen auf den Grund gehen, es ging mir um das „Denken ohne Geländer“. Deshalb bin ich für viele Menschen bis heute so schwer einzuordnen, passe in kein Schema.

INARA: Welche Werte waren Ihnen wichtig?

Arendt: Freiheit und Gerechtigkeit waren für mich immer die Grundprinzipien der Politik. Ich habe mich daher bereits früh mit den Ursprüngen von totalitärer Herrschaft und Antisemitismus beschäftigt. Eines meiner Ideale war schon in der Nachkriegszeit ein europäischer Föderalismus, der alle Nationalismen überwinden sollte. Der Mensch ist nicht von Natur aus böse oder gut, nur das Individuum trägt die Verantwortung für seine Taten.

INARA: Man zählt Sie zu den einflussreichsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts, Sie selbst wollte aber nie als Philosophin bezeichnet werden. Warum und wie definieren Sie selbst Ihr Werk?

Arendt: Ich sehe mich eher als politische Theoretikerin und wollte nicht auf die Philosophie reduziert werden. Dieses Fach habe ich zwar seinerzeit gerne und mit großem Eifer studiert, ihm aber dann endgültig Lebwohl gesagt.

INARA: Wie verlief Ihre Karriere in den USA?

Arendt: In den 30-er-Jahren hatte ich in Deutschland bereits an meiner Habilitation gearbeitet, die Machtübernahme der Nazis machte dann alles zunichte. Im Jahr1959 erhielt ich eine Gastprofessur an der Princeton University und war damals die erste Frau, die dort lehrte. Bereits ab dem Jahr 1945 konnte ich in den USA publizieren. Ich wurde von der Öffentlichkeit als bedeutende politische Intellektuelle wahrgenommen und lehrte bis zu meinem Tod im Jahr 1975 an renommierten Universitäten. Eine Karriere dieser Art wäre für eine Frau in den Ländern des alten Europas zu jener Zeit kaum vorstellbar gewesen.

INARA: Natürlich interessieren wir uns auch für Ihr Privatleben.

Arendt: Ich war zweimal verheiratet, zunächst mit dem Philosophen Günther Stern (Pseudonym Günther Anders), von dem ich mich nach wenigen Jahren scheiden ließ, weil wir uns auseinandergelebt hatten. 1940 heirate ich Heinrich Blücher, einen in Deutschland verfolgten Journalisten und KPD-Mitglied, mit dem ich bis zu seinem Tod 1970 eine glückliche Ehe führte. Es ist inzwischen ja auch allgemein bekannt, dass ich bereits auf der Universität mit Martin Heidegger, meinem Professor, ein Verhältnis hatte, das wir aber geheim hielten. Kinder bekam ich nicht. Als wir jung waren, hatten wir kein Geld. Und als wir Geld hatten, waren wir zu alt. Außerdem waren die Zeiten schwierig.

INARA: Wie wichtig waren Ihnen Freundschaften?

Arendt: Freundschaften mit Männern und Frauen waren mir mein ganzes Leben lang wichtig. Freundschaft ist für mich gelebte Philosophie und die Grundlage aller Menschlichkeit. Und für mich hat sie auch eine politische Dimension. Anne Mendelssohn, die später Weil-Mendelssohn hieß, lernte ich schon in meiner Kindheit in Königsberg kennen, diese Freundschaft hielt unser ganzes Leben lang. Auch mein intensiver Kontakt mit der US-amerikanischen Schriftstellerin Mary McCarthy blieb jahrzehntelang und auch über Kontinente hinweg aufrecht, in dem wir einander jede Menge Briefe schrieben.

INARA: Wie stehen Sie zum Feminismus und zur Frauenbewegung?

Arendt: Eine freie und emanzipierte Gesellschaft war mir immer wichtig und ich habe ja auch selbst so gelebt. Ich habe einfach das gemacht, was ich gerne machen wollte – auch in bisher männlich dominierten Bereichen wie Wissenschaft und Politik. Eine Hierarchie zwischen Männern und Frauen lehne ich total ab, jede Person ist einzigartig. Aber manche Ideen der Frauenbewegung, die in den 70er und 80er-Jahre dominierten, haben mir nicht gefallen. Umgekehrt war es wohl genauso. Deshalb verlief auch meine Begegnung mit Simone de Beauvoir, eine der Ikonen der feministischen Philosophie, eher distanziert. Einen Weltfrauentag müsste es nach meiner Meinung nicht geben und von einer Quotenregelung halte ich nicht viel. Dass die Frauenbewegung der Gegenwart mich als eines ihrer Vorbilder sieht, freut mich natürlich.

Hommage an Hannah Arendt

Pluralität, die Perspektive

des anderen einnehmen…

Jüdin und geflüchtet,

totale Herrschaft analysiert.

Die These

„Banalität des Bösen“

aufgestellt…und

„ohne Geländer“ gedacht…

Wollen wir das Vermächtnis

Weiterdenken

Dieser Text stammt aus dem Buch „Hommagen an Dichter und Denker“ von Martina Reinhart. Das im Verlag Bibliothek der Provinz erschienene Werk wurde vor kurzem bei einer Vernissage im Club alpha in Wien präsentiert. Reinhart, die Malerin und studierte Philosophin ist, stellte dabei 19 ihrer Bilder aus, die im Buch mit Texten über berühmte Persönlichkeiten kombiniert werden.

Martina Reinhart – Hommagen an Dichter und Denker. Martina Reinhart. ISBN: 978-3-99126-191-9 21 x 15 cm, 48 Seiten, zahlr. farb. Abb., Hardcover

€ 20,00

Autorin: Brigitta Schwarzer