Platz ist in der kleinsten Hütte – Was Europa von Tokio lernen kann

Platz ist in der kleinsten Hütte – Was Europa von Tokio lernen kann

Last Updated on 2024-03-16
sn.at / Felix Lill, 10.03.2024

Japanische Wohnungen bieten kaum Raum. Das kann ein Vorteil sein für ein Leben außer Haus und platzsparendes Bauen in Citylagen. Wie das geht, zeigt ein Besuch vor Ort.

“So klein ist sie doch gar nicht, oder?”, fragt Kaoru Miyaguni in eine leere Wohnung hinein. Von diesem Objekt ist die Maklerin überzeugt. “Hier links haben Sie den offenen Wohnraum, daran anschließend den Essbereich mit Küchenzeile”, erklärt Miyaguni. “Auf der rechten Seite sind Bad und Toilette, getrennt begehbar. Und hinter der Küchenzeile das separierte Schlafzimmer.” Kaoru Miyaguni zeigt zufrieden auf einen kleinen Balkon und gibt zu verstehen: Hier könne man doch wunderbar leben. “Sie sollten sich beeilen”, sagt sie. “Ein Objekt wie dieses ist begehrt.”

Die Wohnung, die die Tokioter Maklerin anbietet, ist etwas Ordentliches. Frisch renoviert, am Westrand des Stadtzentrums gelegen und zehn Minuten Fußweg zur nächsten U-Bahn-Station, kostet sie 32 Millionen Yen (rund 200.000 Euro). Was Kaufinteressenten aus westlichen Ländern immer wieder erstaune, sei weniger der Preis als die Größe: Kaum 36 Quadratmeter zählt die Wohnung. In Europa würde das als ziemlich klein gelten. Für Tokio ist das zumindest für einen Single schon fast Luxus.

In der mit 37 Millionen Einwohnern weltgrößten Metropolregion ist Raum schon lange Mangelware. Längst hat man sich hier auf platzsparendes Wohnen eingestellt. Der Durchschnittsperson stehen rund 20 Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung – halb so viel wie in Wien oder Berlin. Aber wer in Tokio gelebt hat, weiß: So viel Platz, wie Menschen in Europa zur Verfügung steht, braucht man für ein komfortables Leben nicht unbedingt.

Die Wohnung, die Kaoru Miyaguni eben aufgesperrt hat, besteht aus einer geräumigen Ess- und Wohnküche plus Schlafzimmer. Akasaka Real Estate, Miyagunis Arbeitgeber, führt solche Objekte besonders häufig in seinem Portfolio. Denn hier können nach japanischem Verständnis Singles, Paare und sogar Eltern mit einem kleinen Kind leben. Wie das geht, führt die Maklerin vor. Dabei fällt immer wieder die enorme Raumeffizienz auf, mit der Wohnungen geplant sind.

Da sind etwa die Schiebetüren, die beim Öffnen keinen Raum beanspruchen, sondern in der Wand verschwinden. Schränke sind schon so eingebaut, dass sie – ebenfalls mit Schiebetüren – nicht ins Zimmer ragen. Eine Küche spart nicht nur durch Oberschränke Platz, sondern auch durch ausziehbare Kochfelder. Und Bäder sind oft eine Art Nasszelle aus wasserfestem Material, sodass effektiv mehr Raum für den Dusch- und Badebereich bleibt, der vom Trockenbereich getrennt ist.

Wenn man sieht, wie viel Wohnen auf 36 Quadratmetern möglich ist, fragt man sich, ob nicht auch andere Länder von dieser Art zu bauen lernen könnten. Auch in Europa – von Luxemburg bis Portugal – zählt in den Städten der Mangel an bezahlbarem Wohnraum zu den größten Herausforderungen. So verkündete die deutsche Ampelregierung im Koalitionsvertrag Ende 2021 das ehrgeizige Ziel, jährlich 400.000 Wohnungen zu bauen. 2022 kam man allerdings erst auf knapp 300.000 Einheiten, 2023 werden es noch weniger sein. Könnten mehr Wohneinheiten auf bestehendem Raum die Lösung sein?

Florian Liedtke ist überzeugt, dass Japans Bau- und Wohnkultur Vorbild für Europa sein könnte. Der Doktorand an der TU Braunschweig promoviert über nachhaltigen Städtebau in Ostasiens Metropolen. Er ist überzeugt: “Von Tokio könnte man einiges lernen, auch für die Raumaufteilung von Wohnungen.” In seiner Doktorarbeit geht Liedtke einen Schritt weiter und nennt die gesamte Tokioter Stadtteilnutzung als Positivbeispiel: “Hier werden Lebensbereiche von der Wohnung nach draußen outgesourct.”

So ist in der von Maklerin Miyaguni gezeigten Wohnung eine Waschmaschine nicht unbedingt vorgesehen. Dafür gibt es in der Nachbarschaft – oder im Wohngebäude – einen günstigen Waschsalon. Weitere Beispiele sind die beliebten Karaokebars, die lautes Musikhören und -machen erlauben und als Treffpunkte unter Freunden gelten, weil sich die Kabinen günstig mieten lassen. An Straßenecken warten Schnellrestaurants, die Nudeln oder Reisgerichte anbieten. Somit braucht man in Tokio auch kaum großzügige Küchen.

In Europa mag das unkomfortabel klingen, geradezu heimatlos. Florian Liedtke aber sagt: “Durch das Outsourcing von Wohnfunktionen wird nicht nur Platz gewonnen”, was die Preise von Wohnungen drückt. “Outsourcing erzeugt oft auch einen Mehrwert.” Als Beispiel nennt er Sento, die traditionellen öffentlichen Waschhäuser von Tokio, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts die Funktion von Badezimmern übernahmen. “Dort wäscht man sich ja nicht nur, man entspannt auch und begegnet sich.”

Sento kamen in den Jahrzehnten des japanischen Wirtschaftswunders aus der Mode, seither enthalten modernere Wohnungen meist ein kompaktes Bad mit – wenn auch kleiner – Badewanne. Aber noch gibt es viele alte Wohnungen, und sie erfreuen sich steigender Beliebtheit. Das berichtet Natsuko Kashima. Sie arbeitet für ein Unternehmen, das sich auf das Renovieren und günstige Vermieten von Wohnungen ohne Bad spezialisiert hat.

Solche Wohnungen seien beliebt “bei Menschen mit geringem Einkommen und jenen, die eine Zweitwohnung in Tokio brauchen”, sagt Kashima. Wegen ihrer Einfachheit lassen sich Ein-Zimmer-Wohnungen im Zentrum für unschlagbare 70.000 Yen im Monat (433 Euro) mieten. “Zentral ist, dass es in unmittelbarer Nähe ein Sento gibt, wo sich Mieter für wenig Geld waschen können.” Selbst bei einem täglichen Sentobesuch für 500 Yen sei das günstiger als eine Wohnung mit Vollbad, rechnet Kashima vor.

Muss man in Europa nun beginnen, Wohnungen ohne Bäder zu planen, um mehr Wohneinheiten bauen zu können? Nein, betont Liedtke. “Aber man könnte von Tokio lernen, bei welchen Wohnbereichen es zur Lebenskultur passt, sie auszulagern.” Eine lebendige Café-Kultur, Coworkingspaces und Restaurants mit Indoorspielplätzen für Kinder gibt es schon. Je weniger Aktivitäten man in die eigenen vier Wände verlagert, desto weniger groß muss eine Wohnung sein – und desto sozialer wird das Leben.

Das Outsourcing der Wohnfunktionen, wie Liedtke es nennt, begann in Tokio in den 1990er-Jahren. Nach dem langen Wirtschaftsboom schlitterte Japan damals in eine tiefe Rezession. Plötzlich war in den Zentren viel Geschäftsfläche frei. Nudelrestaurants, Karaokebuden und Waschsalons wurden populärer, sagt Liedtke. Damit die breite Gesellschaft von dem Angebot profitierte, “musste alles finanziell niedrigschwellig sein”. Waschen im Salon kostet 300 Yen (1,80 Euro), eine halbe Stunde in der Karaokekabine inklusive Getränk 640 Yen.

“In Europa ist die wirtschaftliche Lage heute recht schwierig. Vielleicht wäre jetzt ein guter Zeitpunkt zum Umdenken”, meint Liedtke. Im breiten Dialog zwischen Bürgerinnen und Bürgern, Stadtplanern, Architektinnen und Unternehmen könnte man erörtern, welche Wohnfunktionen unbedingt in den eigenen vier Wänden erfüllt werden müssen – und welche draußen vielleicht besser aufgehoben wären. Dann ließe sich Platz sparen. Vielleicht so viel, dass 36 Quadratmeter komfortabel erscheinen – und auch in Europas Städten endlich mehr.

Quelle: https://www.sn.at/wirtschaft/welt/platz-huette-was-europa-tokio-154824379